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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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holte die restlichen Sachen, den Einkaufsbeutel und die Decken aus ihrem Auto. Sein Name war Al. Albert Simpson. Nachdem er den Kabinenboden abgetastet hatte, fand er noch eine Tasse unter dem Sitz, die er sorgfältig mit einem Taschentuch auswischte, bevor er Kaffee aus seiner Thermoskanne hineingoß. Sie trank, froh über das starke, heiße Getränk und dankbar, mit jemandem zusammenzusitzen, der nichts über sie wußte. Mochte es in der Fahrerkabine auch muffig sein und nach alten Socken riechen, so fühlte sie sich doch sicher und eigenartig glücklich, und das Baby, das ihr nicht gehörte, schlief friedlich auf ihrem Schoß. Auf der Fahrt erzählte Al ihr Geschichten von seinem Leben auf der Straße, von den Duschen in Fernfahrerlokalen und den Kilometern, die unter seinen Rädern dahinglitten, während er von einer Nacht in die nächste jagte.
    Vom Surren der Reifen, von der Wärme und dem Schnee eingelullt, schlief Caroline fast ein.
    Als sie auf dem Parkplatz ihres Wohnkomplexes standen, nahm der Truck fünf Stellflächen ein. Al sprang raus, um ihr herunterzuhelfen, und ließ den Motor laufen, als er ihre Sachen – die Milch, Fläschchen und Windeln – die Außentreppe hochtrug. Caroline folgte ihm mit Phoebe auf dem Arm. In einem der unteren Fenster bewegte sich ein Vorhang – Lucy Martin, die ihr wie gewöhnlich nachspionierte –, und Caroline, plötzlich von einem Gefühl des Schwindels übermannt, hielt inne. Von außen betrachtet, war alles so wie vorher. Nur sie war nicht mehr die Frau, die gestern, mitten in der Nacht, von hier aufgebrochen und durch den Schnee zu ihrem Auto gewatet war. So grundlegend hatte sie sich verändert, daß es ihr vorkam, vor einer fremden Wohnung zu stehen. Doch ihr alter Schlüssel glitt ins Schloß und öffnete es wie immer. Als die Tür aufschlug, trug sie Phoebe in ein Zimmer, das sie in- und auswendig kannte: den strapazierfähigen dunkelbraunen Teppich, das karierte Sofa, den Stuhl, den sie im Ausverkauf erstanden hatte, den Teetisch mit der Glasplatte und darauf |78| der Roman, den sie letzte Nacht gelesen hatte – »Schuld und Sühne« –, ordentlich mit einem Lesezeichen versehen, all das war noch an Ort und Stelle. Sie hatte Raskolnikow verlassen, als er Sonja gerade seine Schuld gestand, hatte von den beiden in ihrer kalten Dachkammer geträumt, als das Telefon klingelte, und war in einem Schneetreiben, das auf den Straßen tobte, erwacht. Al füllte den ganzen Türrahmen aus. Er konnte ein Vergewaltiger oder Knacki sein, er konnte alles mögliche sein.
    Und dann sagte sie: »Ich habe ein Schlafsofa. Wenn Sie wollen, können Sie heute nacht darauf schlafen.«
    Nach einem Moment des Zögerns trat er ein. »Was sagt Ihr Mann dazu?« fragte er, während er sich vorsichtig umsah. »Ich bin nicht verheiratet«, erwiderte sie, merkte dann aber, daß sie einen Fehler gemacht hatte, und korrigierte sich. »Nicht mehr.«
    Er drehte die Wollmütze in den Händen, während er sie genau betrachtete. Von seinem Kopf standen dunkle Locken ab. Übermüdung und Kaffee hatten zur Folge, daß sie sich matt und aufgekratzt zugleich fühlte, und sie fragte sich plötzlich, was sie – in ihrer Schwesterntracht, mit ihrem Haar, das seit Stunden keinen Kamm mehr gesehen hatte, ihrem offenen Mantel, diesem Baby in ihren Armen, ihren sehr, sehr müden Armen –, was sie wohl für einen Eindruck auf ihn machte.
    »Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen«, sagte er.
    »Sie eine Last?« wehrte sie ab. »Wenn Sie nicht gewesen wären, würde ich immer noch auf diesem Parkplatz festsitzen.«
    Er grinste und ging zu seinem Truck, um ein paar Minuten später mit einem kleinen Seesack aus dunkelgrünem Leinen wiederzukommen.
    »Unten hat mich jemand vom Fenster aus beobachtet. Sind Sie sicher, daß ich Ihnen keine Scherereien bereiten werde?«
    |79| »Das war Lucy Martin«, erklärte Caroline. Phoebe hatte sich geregt, worauf sie das Fläschchen aus dem heißen Wasser nahm und die Temperatur der Milch an ihrem Arm testete. Dann setzte sie sich. »Sie ist eine furchtbare Klatschbase. Glauben Sie mir – Sie haben sie gerade glücklich gemacht.«
    Phoebe wollte nicht trinken, begann jedoch zu heulen, und Caroline stand auf und ging, beruhigende Worte murmelnd, im Zimmer auf und ab. Unterdessen machte sich Al an die Arbeit. Im Nu hatte er das Schlafsofa ausgezogen und das Bett militärisch korrekt, mit scharfen Falten an jeder Ecke, gemacht. Als Phoebe schließlich zur Ruhe kam, nickte

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