Die Tochter des Fotografen
wollte dann abwarten, wie das Wetter wird. Ich stehe also noch ein Weilchen hier. Sie können gerne mitkommen und sich in meinem Truck aufwärmen. Denken Sie in Ruhe darüber nach.« Als Caroline nicht sofort antwortete, fügte er noch hinzu: »Ich denke auch an das Baby.«
Daraufhin blickte sie suchend über den Parkplatz, bis sie, an dessen äußerstem Rand, einen Sattelschlepper mit einer dunkel glänzenden Fahrerkabine sah. Sie hatte den langen, mattsilbernen Kasten, der wie ein Haus am Rande der Welt wirkte, schon vorher gesehen, aber nicht weiter beachtet. In ihren Armen holte Phoebe tief Luft und setzte ihr Geschrei fort.
|75| »In Ordnung«, entschied Caroline schnell. »Jedenfalls, um warm zu werden.« Vorsichtig umrundete sie einige aufgeplatzte Zwiebeln. Als sie den Rand der Rampe erreicht hatte, war er schon dort und streckte ihr die Hand entgegen, um ihr hinunterzuhelfen. Verärgert, aber auch dankbar, da sie eine Eisschicht zwischen dem verrotteten Gemüse und dem Schnee fühlte, griff sie zu. Sie sah in ein Gesicht, das von einem dichten Bart bedeckt war. Seine enganliegende Strickmütze war bis zu den Augenbrauen gezogen, und darunter saßen dunkle Augen, freundliche dunkle Augen. »Lächer lich «, schalt sie sich, als sie über den Parkplatz liefen, »ver rückt und dumm.« Er konnte ein Mörder sein. Aber sie war so müde, daß es ihr fast egal war.
Er half ihr, einige Sachen aus dem Auto zu holen und sich in der Fahrerkabine niederzulassen. Während sie auf die hohe Sitzbank kletterte, hielt er Phoebe und reichte ihr das Baby anschließend hinauf. Caroline füllte das Fläschchen noch einmal mit warmer Säuglingsmilch auf. Phoebe war so außer sich, daß es einige Minuten dauerte, bis sie begriff, daß sie etwas zu trinken bekam, und selbst jetzt hatte sie Mühe, richtig zu saugen, bis Caroline ihre Wange sanft streichelte und sie schließlich den Sauger fest zwischen die Lippen nahm und trank.
»Merkwürdig, oder«, bemerkte der Mann, als sie zur Ruhe gekommen war. Er war auf den Fahrersitz geklettert. In der Dunkelheit schnurrte der Motor beruhigend wie eine große Katze, und die Welt zog sich klein und still hinter den dunklen Horizont zurück. »So ein Schneesturm in Kentucky.«
»Das gibt es alle paar Jahre mal«, erwiderte sie. »Sind Sie nicht von hier?«
»Akron, Ohio«, sagte er. »Ursprünglich. Aber ich bin jetzt seit fünf Jahren unterwegs, und langsam gefällt mir der Gedanke, daß ich überall zu Hause bin.«
»Sind Sie nicht manchmal einsam?« fragte Caroline, während sie daran dachte, wie allein sie selbst an einem gewöhnlichen Abend in ihrer Wohnung saß. Sie konnte kaum glauben, |76| daß sie hier, in diesem Truck, so vertraut mit einem Fremden sprach. Es war seltsam, aber aufregend, wie wenn man sich jemandem im Bus oder Zug anvertraut.
»Oh, ja, manchmal«, gab er zu. »Es ist natürlich ein einsamer Job. Aber genausooft kommt es vor, daß ich ganz unerwartet jemanden treffe – so wie heut abend.«
In der Fahrerkabine war es warm, und Caroline merkte, wie sie ihrer Müdigkeit nachgab und sich in den hohen, bequemen Sitz zurücklehnte. Noch immer tanzten die Schneeflocken im Licht der Straßenlampen. Ihr Auto stand mitten auf dem Parkplatz, ein verlassenes dunkles Etwas, das mit Schnee bestäubt war.
»Wo wollten Sie hin?« fragte er.
»Nur nach Lexington. Auf der Interstate, ein paar Kilometer entfernt, lag ein Autowrack. Ich dachte, ich könnte mir etwas Zeit und Ärger ersparen.«
Auf seinem Gesicht, das sanft von den Straßenlampen erleuchtet wurde, zeigte sich ein Lächeln, und zu ihrem eigenen Erstaunen lächelte auch Caroline. Dann mußten sie beide lachen.
»Ein guter Plan«, schmunzelte er, und Caroline nickte.
»Wissen Sie«, sagte er nach einer Weile, »wenn Sie nur nach Lexington wollen, kann ich Sie hinfahren. Ich kann den Truck genausogut dort parken. Morgen – ja gut, morgen ist Sonntag –, aber am Montagmorgen können Sie als erstes einen Abschleppdienst anrufen. Ihr Auto ist solange hier sicher.«
Das Licht der Straßenlampe fiel auf Phoebes winziges Gesicht. Er beugte sich zu ihr herüber und sacht, ganz sacht streichelte er mit seiner riesigen Hand ihre Stirn. Caroline, der seine Unbeholfenheit und Ruhe gefielen, nahm sein Angebot an.
»Gut, wenn es Ihnen keine Umstände macht.«
»Teufel, nein«, versicherte er. »’tschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber es macht wirklich keine Umstände. Lexington liegt auf meinem Weg.«
|77| Er
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