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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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hatte, standen sie ihm so deutlich vor Augen, als ob er sie selbst aufgenommen hätte. Phoebes Haar war, wie |156| Pauls, dunkel und fein. Ihre Augen waren braun, und sie fuchtelte mit rundlichen Fäusten in der Luft herum, als ob da etwas außerhalb der Sichtweite der Kamera wäre. Vielleicht war es Caroline, die die Kamera führte. Er hatte sie, groß und einsam in ihrem roten Mantel, während des Trauergottesdienstes erspäht. Ohne sich über seine Absichten im klaren zu sein, nur mit dem Gefühl, sie sehen zu müssen, war er danach direkt zu ihrer Wohnung gefahren. Aber da war Caroline schon fort gewesen. Ihre Wohnung hatte sich nicht verändert: gedrungene Möbel und kahle Wände; im Bad tropfte ein Wasserhahn. Aber die Luft stand unnatürlich still, und die Regale waren nackt. Die Schubladen der Kommode und die Schränke waren leer. Trübes Licht fiel auf den schwarzweißen Linoleumboden in der Küche, und David hielt inne, um dem Hämmern seines eigenen unruhigen Herzens zu lauschen.
    Er legte sich zurück, und die Wolken zogen über ihn hinweg – Licht und Schatten. Er hatte nicht versucht, Caroline zu finden, und da ihr Brief keinen Absender trug, wußte er auch jetzt nicht, wo er beginnen sollte. »Es liegt in Ihren Händen«, hatte er zu ihr gesagt. Aber gelegentlich, wenn er allein in seinem neuen Büro saß oder Fotos entwickelte und dabei zusah, wie langsam die Bilder erschienen, geheimnisvoll auf blankem weißen Papier, oder hier, da er auf diesem warmen Felsen lag, während Norah verletzt und wütend fortgegangen war, holte ihn der Schmerz ein.
    Er war müde und merkte, wie er langsam in den Schlaf sank. Insekten summten im Sonnenlicht, und er fürchtete sich ein bißchen vor den Bienen. Die Steine in den Taschen drückten gegen sein Bein. In seiner Kindheit hatte er in manchen Nächten, wenn die Pappeln lebendig wurden, weil sie vor Leuchtkäfern blinkten, seinen Vater in dessen Schaukelstuhl auf der Veranda angetroffen. In einer dieser Nächte hatte sein Vater ihm einen glatten Stein in die Hand gelegt – eine Beilspitze, die er beim Ausheben eines Grabens gefunden |157| hatte. »Sie ist über zweitausend Jahre alt, kannst du dir das vorstellen, David? Einst hat sie in einer anderen Hand gelegen, vor ewig langer Zeit, aber unter demselben Mond.«
    Es gab andere Tage, an denen sie ausgezogen waren, um Klapperschlangen zu fangen. Von früh bis spät waren sie durch die Wälder gelaufen, gegabelte Stöcke und Metallkisten in Händen, Stoffbeutel über den Schultern.
    An solchen Tagen schien die Zeit stillzustehen. Die Sonne wollte nicht untergehen, während die trockenen Blätter unter Davids Füßen raschelten. Die Welt bestand dann nur aus ihm, seinem Vater und den Schlangen. Gleichzeitig aber dehnte sie sich aus, bis er den Himmel, der mit jedem Schritt noch höher und strahlender wurde, in seiner ganzen Weite erfaßte. Denken und Wahrnehmung verlangsamten sich, bis zu dem Moment, da er eine Bewegung inmitten der schmutzigen Farben und des trockenen Laubes bemerkte und das Rautenmuster auf dem Rücken der Schlange sichtbar wurde, das nur zu erkennen war, wenn sie anfing, über den Boden zu gleiten. Sein Vater hatte ihm beigebracht, wie man in der Bewegung erstarrte, ohne die gelben Augen und die gespaltene Zunge aus dem Blick zu verlieren. Jedesmal wenn sich die Schlange häutete, wurde die Rassel an der Schwanzspitze größer, und so konnte man an der Lautstärke des Klapperns, das durch die Stille des Waldes brach, erkennen, wie alt und groß die Schlange war und wieviel Geld sie bringen würde. Für die größten Exemplare, die bei zoologischen Gärten, Forschern und manchmal auch bei Händlern begehrt waren, würden sie vielleicht fünf Dollar pro Stück erhalten.
    Licht fiel durch die Bäume und malte, begleitet vom Rauschen des Windes, Muster auf den Waldboden. Dann kam das Klappern, der aufgerichtete Kopf der Schlange, und sein Vater stieß mit starker, fester Hand den gegabelten Stock hinunter, um die Schlange am Nacken festzunageln. Unter wildem, wütendem Geklapper weiteten sich ihre Fänge und schlugen hart in die feuchte Erde. Mit festem Griff umfaßte |158| sein Vater die Schlange, eng hinter ihrem aufgesperrten Rachen, und nahm sie hoch. Kühl und trocken wand sie sich wie eine Peitsche. Er schleuderte die Schlange in einen Stoffbeutel, riß ihn zu, und der Beutel war zu etwas Lebendigem geworden, das auf dem Boden herumzuckte. Sein Vater packte ihn in eine Metallkiste und schloß

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