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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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belogen.
Und die Entfernung zwischen ihnen, die nur Millimeter, nur einen Atemzug groß war, tat sich zu einem Abgrund auf, an dessen Rand er stand. Er zog sich zurück in das Wechselspiel zwischen Licht und Schatten, Wolken und Sonne und spürte den warmen Felsen an seinem Rücken.
    »Was hast du«, fragte sie und streichelte seine Brust. »Was ist denn nur los, David?«
    »Nichts.«
    »David«, bat sie. »David, bitte sag es mir.«
    Kurz davor, alles einzugestehen, zögerte er, und der Moment ging vorbei. »Ich habe ein Problem bei der Arbeit. Einen Patienten. Der Fall geht mir einfach nicht aus dem Kopf.«
    »Laß doch mal los«, sagte sie leise. »Ich will nichts mehr von deiner Arbeit hören. Ich habe es satt.«
    Hoch am Himmel schwebten die Falken mit dem Aufwind nach oben. Die Sonne war so warm. Alles kreiste, kehrte |154| immer wieder zum gleichen Ausgangspunkt zurück. Er mußte es ihr sagen; die Wörter lagen ihm schon auf der Zunge.
Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr, und ich habe dich belogen.
    »David, ich möchte noch ein Kind haben«, erklärte Norah, während sie sich aufrichtete. »Paul ist jetzt alt genug, und ich fühle mich bereit.«
    David war so erschrocken, daß es ihm für einen Moment die Sprache verschlug.
    »Paul ist gerade mal ein Jahr alt«, stieß er schließlich hervor.
    »Na und? Man sagt, daß es einfacher ist, die ganze Windelei und Fütterei in einem Aufwasch zu erledigen.«
    »Wer sagt das?«
    Sie seufzte. »Ich wußte, daß du so reagieren würdest.«
    »Ich sage ja nicht nein«, antwortete David vorsichtig.
    Sie erwiderte nichts.
    »Ich finde nur den Zeitpunkt ungünstig, das ist alles.«
    »Du sagst nein. Du sagst nein und willst es nicht zugeben.«
    Er verhielt sich ruhig und erinnerte sich daran, wie nahe Norah an der Kante der Brücke gestanden hatte. Wieder kamen ihm ihre Fotografien in den Sinn, auf denen nichts zu sehen gewesen war, und er spürte den Brief in seiner Tasche. Nichts wünschte er sehnlicher, als die zerbrechliche Struktur ihres Zusammenlebens zu schützen, daß die Dinge so blieben, wie sie waren. Die Welt durfte sich nicht verändern. Das empfindliche Gleichgewicht zwischen ihnen mußte bestehenbleiben.
    »Es ist doch alles gut, wie es im Moment ist«, sagte er sanft. »Warum sollten wir alles durcheinanderbringen.«
    »Wegen Paul!« Sie nickte in Richtung des friedlich auf seiner Decke schlafenden Kindes. »Er vermißt sie.«
    »Wahrscheinlich kann er sich nicht einmal an sie erinnern«, entgegnete David scharf.
    »Neun Monate sind sie, dicht an dicht, in mir herangewachsen«, beharrte Norah. »In irgendeiner Weise wird er sich erinnern können.«
    |155| »Wir sind noch nicht soweit«, blockte David ab. »Ich jedenfalls bin es nicht.«
    »Aber es geht nicht nur um dich. Du bist doch sowieso kaum zu Hause. Vielleicht bin ich diejenige, die sie vermißt. Manchmal spüre ich wirklich ihre Gegenwart, ganz nah, als ob sie nebenan wäre und ich sie dort vergessen hätte. Ich weiß, daß sich das verrückt anhört, aber es ist wahr.«
    Obwohl er genau wußte, was sie meinte, schwieg er. Der Duft von Erdbeeren lag schwer in der Luft. Seine Mutter hatte sie immer auf dem Ofen im Freien eingekocht. Sie hatte so lange gerührt, bis die schäumende Mixtur sich in Sirup verwandelte. Dann hatte sie die ausgekochten Marmeladengläser bis zum Rand gefüllt, um sie danach, wenn sie wie Juwelen blitzten, als Kostbarkeiten in einem Regal aufzubewahren. Mitten im Winter hatten June und er diese Marmelade gegessen. Löffelweise hatten sie sie stibitzt, wenn ihre Mutter nicht hinsah. Dann hatten sie sich unter dem Tisch mit dem Wachstuch versteckt, um die Löffel unbemerkt blank zu lecken. Nach Junes Tod war seine Mutter eine gebrochene Frau gewesen, und auch David glaubte nicht länger daran, gegen Unglück gefeit zu sein. Statistisch war es unwahrscheinlich, daß sie noch ein Kind mit Downsyndrom bekommen würden, aber es war immerhin möglich, und er konnte dieses Risiko nicht eingehen.
    »Ein neues Baby würde die Dinge nicht wiedergutmachen, Norah. Das ist kein guter Grund, um ein Kind zu kriegen.«
    Nach einem Moment des Schweigens stand sie auf, wischte ihre Hände an ihren Shorts ab und stapfte wütend durch das Feld davon.
    Sein Hemd, aus dessen Brusttasche eine Ecke des weißen Umschlages ragte, lag zerknittert neben ihm. David machte keine Anstalten, ihn herauszuziehen; es war nicht nötig. Der Brief war kurz, und obwohl er die Fotos nur einmal kurz angesehen

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