Die Tochter des Giftmischers - Poole, S: Tochter des Giftmischers - Poison
Sant’Angelo, wo sich das jüdische Ghetto befand. Dennoch beschlich mich ein banges Gefühl. An jeder dunklen Gasse, an der wir vorbeigingen, durchlebte ich erneut den schrecklichen Augenblick, als sich die Angreifer plötzlich auf mich gestürzt hatten. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto feuchter wurden meine Handflächen, und mein Atem ging schneller.
»Wollt Ihr kurz verschnaufen?«, fragte Vittoro und ergriff meinen Arm, damit ich nicht schwankte.
»Nein, nein, es geht mir ausgezeichnet.« Ich sah zu der hohen Mauer hinüber, die vor uns aufragte, und zu den Dächern, die sich dahinter erstreckten. Trotz des Sonnenscheins schien der Schatten der Verzweiflung über den Häusern zu liegen. Ich wollte die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen.
»Ich freue mich schon auf den Augenblick, wenn wir diesen Auftrag ausgeführt haben«, sagte ich.
»Natürlich.« Vittoro nickte.
Zu dieser Zeit war das Ghetto noch nicht von einer eigenen Mauer eingefasst, doch man hatte die Einmündungen zahlreicher Straßen und Gassen, die früher ins Viertel geführt hatten, mit Stein- und Kieshaufen zugeschüttet. Seit die Vertreibung der spanischen Juden bekannt geworden war, war erstmals die Frage aufgetaucht, ob man nicht eine Mauer um das Viertel errichten müsse. Aber bisher war nichts dergleichen geschehen.
Trotzdem konnte man nicht ungehindert vom Ghetto in die Stadt gelangen. Oder umgekehrt. Karren und Wagen durften nur ein einziges Tor benutzen, kontrolliert von condottieri , die nur diejenigen durchließen, die ihnen genügend Münzen in die Hand drückten.
Die Fußgänger hatten es zwar leichter, aber sehr viel besser war der Weg trotzdem nicht. Dass wir ohne Schwierigkeit Zutritt erlangten, verdankten wir allein Vittoros Autorität und dem Wappen der Borgia, das er überall vorwies. Aber dieser Vorteil hatte auch eine Kehrseite. Sobald ich das Ghetto betrat, packte mich die Angst, dass ich ersticken müsste. Der Gestank so vieler Menschen auf solch engem Raum war einfach überwältigend. Abfälle und Mist türmten sich zu Haufen, auf denen Mücken aller Art herumkrochen. Mit jeder Flut drang die schmutzige Brühe des nahen Flusses in alle tiefer gelegenen Geschäfte und Wohnungen und hinterließ neue Berge von Unrat, und zwischen den Häusern, die sich in der Enge gegenseitig das Licht raubten, rührte sich kein Lufthauch.
Aber all das verblasste gegenüber der Masse an Menschen, die aus jeder Türöffnung quollen und sich überall auf den Straßen drängten – dürre Kinder mit stumpfen Augen, gebeugte Männer und Frauen, vor ihrer Zeit gealtert, und dazwischen Alte, die trotz der Hitze in Decken gehüllt waren und ständig vorwärts und rückwärts schaukelten, als ob sie so dem unglaublichen Elend ihres Lebens entkommen könnten.
»Oh, mein Gott«, flüsterte ich und packte Vittoros Hand.
Er nickte mit ernstem Gesicht.
»Die Priester sagen, dass die Vertreibung aus Spanien Gottes Strafe für die Juden sei, weil sie Christus getötet haben.«
Gerüchteweise hatte ich davon gehört, aber ich konnte nicht behaupten, dass ich es verstand. Die Priester, die im Palazzo des Kardinals die Messe lasen, sprachen nie über solche Dinge. Sie hielten sich lieber an die Weisheiten der Kirche und an den Gehorsam, den diese forderte. Gelegentlich erwähnten sie, wenn auch eher flüchtig, dass man die Juden für alles Elend dieser Welt verantwortlich machte, nur weil sie den Erlöser der Menschheit ermordet hatten.
Als ich meinen Vater fragte, warum die Juden das getan hätten, hatte er nur mild gelächelt und mich daran erinnert, dass unter dem Kreuz römische Soldaten gestanden hätten.
Wurde denn nicht eigentlich Rom bestraft? Die Stadt der Heiligen Mutter Kirche mit zahllosen Prinzen und Palazzi? Mit Männern wie Rodrigo Borgia, die nach dem Thron des heiligen Petrus strebten?
Ich scheute vor diesen Gedanken zurück. Solche Fragen stellte man besser gar nicht erst, wenn man überleben wollte. Trotzdem war ich so abgelenkt, dass ich nicht spürte, wie
sich eine kleine Hand in den Schlitz meines Rocks schob und unter dem Stoff bis zu dem Beutel vortastete, in dem ich ein paar Münzen, meine Schlüssel und wichtige Kleinigkeiten bei mir trug. Wenn ich im selben Moment nicht über einen Pflasterstein gestolpert wäre, wäre der Dieb mit seiner Beute entkommen.
So aber spürte ich die Hand an meinem Schenkel und schrie erschrocken auf:
»Ein Dieb!«
Der Schuldige wollte in der Menge untertauchen, aber
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