Die Tochter des Giftmischers - Poole, S: Tochter des Giftmischers - Poison
Verachtung schwankte. Ich konnte seine Reaktion gut verstehen. Nach seinem Verständnis hätte er sein Leben ebenso gut der Schlange persönlich anvertrauen können.
»Ich wusste gar nicht, dass man den Orden verlassen kann«, sagte er schließlich.
»Das ist auch nicht möglich«, bestätigte Rocco. »Ich bin davongelaufen. Guillaume hätte mir die größten Schwierigkeiten machen können, aber er hat es nicht getan. Er hat einfach den Mund gehalten.«
»Und warum?«
»Er hat seine Gründe«, antwortete Rocco und schloss die Augen, um nicht weiter darüber reden zu müssen.
Eine ganze Zeit hockten wir schweigend auf dem Boden, und mir fielen hin und wieder die Augen zu. In wachen Momenten dachte ich an Nando, der zum Glück in Sicherheit war, und an seinen Vater, der durch mich vielleicht zu einem gejagten Mann wurde. Wie sorglos hatte ich ihn doch in meine Schwierigkeiten hineingezogen und mir eingeredet, dass ich keine Wahl hätte. Dabei gibt es immer andere Wege. Wenn er zu Schaden käme, war ich allein dafür verantwortlich.
Während ich noch über solch unerfreuliche Entwicklungen nachsann, vernahm ich Schritte auf den Steinstufen, die zur Krypta hinunterführten. Rocco hörte sie ebenfalls und stand auf. Ich stieß David an, der eingedöst war, und wir krochen dicht hinter einen der Sarkophage, während Rocco nach vorn ging, um den Besucher aufzuhalten, wer auch immer es war.
Einen Augenblick später drang leises Stimmengemurmel an mein Ohr. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber nach Streit klang es nicht. Kurz darauf kam Rocco mit einem Mönch im schwarzweißen Habit des Ordens zu uns nach hinten. Der Mönch war ungefähr im selben Alter wie Rocco, aber etwas kleiner und schlanker. Außerdem trug er einen sorgfältig gestutzten Bart samt Schnurrbart. Er musterte
uns mit offenem Blick und schien über unsere Gegenwart nicht im Geringsten beunruhigt.
»Dies ist Bruder Guillaume«, erklärte Rocco. »Er wird uns helfen.«
»Rocco sagt, dass ihr aus der Engelsburg geflüchtet seid.« Guillaumes Blick wanderte zwischen David und mir hin und her, und er schien so fasziniert, dass er angesichts unserer stinkenden Kleider nicht einmal die Nase rümpfte. »Wie habt ihr das nur geschafft?«
David stand auf. Er straffte die Schultern, ballte die Fäuste und sah Bruder Guillaume herausfordernd an.
»Warum wollt Ihr das wissen?«
Angesichts der unverhohlenen Drohung errötete der Mönch, aber er wich nicht zurück.
»Ich bin einfach nur neugierig. Die Burg ist mir ein einziges Rätsel, und das zu lösen, erfordert Klugheit, gute Kenntnisse und wahrscheinlich auch ein bisschen Glück.«
»Guillaume liebt Rätsel.« Rocco lächelte. Und mit einem Blick auf mich fügte er hinzu: »Am meisten interessieren ihn die Rätsel der Natur. Fragt ihn doch nach den Bienen.«
»Bienen?«, wiederholte ich verständnislos.
Anfangs wirkte der Mönch verlegen, aber dann gewann die Begeisterung die Oberhand.
»Bienen sind die faszinierendsten Tiere der Schöpfung. Weit faszinierender als der Mensch. Sie folgen selbstlos und fleißig ihrer jeweiligen Aufgabe. Dazu verwenden sie verschiedene Ausdrucksformen. Zum Beispiel vollführt eine Biene bei ihrer rückkehr in den Stock einen ausgeklügelten Tanz, dessen Schritte davon abhängen, was sie damit sagen will. Andere Bienen beobachten sie ganz genau und fliegen
dann in dieselbe Richtung davon, aus der die andere gekommen ist.«
»Wie aufregend«, bemerkte David. Inzwischen hatte er die Fäuste gelockert und betrachtete den Mönch fast ein wenig belustigt.
»Aber das ist längst noch nicht alles«, fuhr Guillaume fort. »Ich denke, dass es ein Schema in der Natur gibt, was bei der Züchtung eine Rolle spielt und die Anzahl der Bienen in einem Stock bestimmt. Die Zahl erhöht sich genau nach der Zahlenfolge, die der berühmte Mathematiker Leonardo Fibonacci entdeckt hat. Diese Sequenz wiederholt sich in Myriaden anderer natürlicher Ordnungen … wie zum Beispiel in der Anzahl der Blütenblätter einer Sonnenblume oder in den Spiralen eines Fichtenzapfens, oder …«
»Erstaunlich«, sagte ich beeindruckt und meinte es auch so. Aber die Zeit verging, und wir hatten noch immer keinen Plan entworfen, um heil zu entkommen.
»Verzeiht«, sagte Guillaume, ohne beleidigt zu sein. »Ich rede immer weiter und weiter. Vermutlich gestattet mir der Abt deshalb die Freiheit, meine Studien weiterzubetreiben … zum Ruhme Unseres Herrn, natürlich.«
In diesem Moment dachte ich
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