Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
stand ihr ein lang zurückliegender Abend vor Augen, an dem sie ins Bett gestiegen war, ohne auf eine ebensolche kleine Beule in ihrer Bettdecke zu achten. Als sie die Decke zurückschlug, erwachte die Beule urplötzlich zum Leben, sprang hoch, zerkratzte ihr Bein und quiekte jämmerlich. Bei der Erinnerung bekam Emma jetzt noch am ganzen Körper eine Gänsehaut. Sie hatte laut geschrien, wie ihr voller Verlegenheit wieder einfiel. Mrs Malloy war mit einer Lampe angerannt gekommen, hatte die Bettdecke vollends zurückgeschlagen und einen Strumpf entdeckt, in den irgendwer eine Maus gesteckt und ihn dann zusammengebunden hatte.
Die Jungen hatten sämtlich antreten müssen. Dann sollte der, der das getan hatte, vortreten. Doch die vier Jungen, die damals in der Schule wohnten, hatten zusammengehalten und einmütig ihre Unschuld beteuert.
Emma wusste sehr wohl, dass es Henry Weston gewesen war. Doch ihr Vater, voreingenommen für Henry, wie er war, hatte kein Aufheben machen wollen. Immerhin war Henry der älteste Sohn und Erbe von Sir Giles, dem Baronet, und es war ein großes Privileg für sie, dass er ihr Pensionat besuchte.
Nicht willens, so etwas noch einmal durchzumachen, trat Emma mit äußerster Vorsicht an das Bett heran. Ein Schauder überlief sie. Sie riss sich zusammen, strich die Bettdecke glatt und schlug sie langsam zurück. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Bettwäsche duftete und offenbar frisch gewaschen war, und sie wusste Bescheid. Heute war der Tag, an dem Morva wie gewöhnlich die Bettwäsche gewechselt hatte, und in der Eile hatte das Mädchen das Bett nicht ganz so exakt gemacht, wie es zuvor gewesen war.
Emma schüttelte über sich selbst den Kopf und begann, sich bettfertig zu machen. Sie klingelte nach Morva, damit diese ihr beim Auskleiden half. Danach legte sie sich ins Bett, stellte sich ihr transportables Schreibpult auf den Schoß und nahm ihr Tagebuch.
Heute habe ich nach sieben Jahren zum ersten Mal Henry Weston wiedergesehen. Er ist gewachsen und seine Schultern sind breiter. Seine Gesichtszüge sind markanter, als ich sie in Erinnerung hatte; er hat hohe Wangenknochen und ein stark hervorspringendes Kinn, dazu dichte, dunkle Brauen und lockiges Haar, das ihm bis auf den Kragen fällt. Seine Augen sind tief liegend und goldgrün. Katzenaugen.
Hinter dem wissenden Grinsen ist kaum noch der Junge zu erkennen, der vor Jahren zu uns nach Longstaple kam. Er ist jetzt ein erwachsener Mann – harte Konturen und grenzenloses Selbstvertrauen. Als Mädchen hatte ich Angst vor ihm – jetzt ist er noch viel Furcht einflößender als früher.
Mit einem leichten Schauder legte sie ihr Tagebuch beiseite und nahm ein Buch zur Hand.
Später, als sie sich im Dunkeln unter ihre Bettdecke kuschelte und über die Ereignisse des Tages und ihre Begegnung mit Henry Weston nachdachte, fing sie noch einmal an, misstrauisch zu schnüffeln, konnte jedoch nichts riechen außer Lauge und Holzrauch. Sie horchte auf fremde Geräusche, doch im Zimmer rührte sich nichts. Von irgendwoher allerdings, endlose Korridore und Treppenaufgänge entfernt, vernahm sie die leisen Töne eines Klaviers. Irgendwer musste im Musikzimmer sein. Sie hatte noch nie gehört, dass jemand spielte, und war überrascht, dass sich jetzt, so spätabends, noch jemand an das Instrument gesetzt hatte.
Sie überlegte, wer es sein mochte. Vielleicht Lizzie? Ein Mädchen wie sie beherrschte neben ihren vielen Fertigkeiten bestimmt auch das Klavierspiel.
Sie dachte an Henry – seine Rückkehr fiel mit dem Klavierspiel zusammen. Doch sie erinnerte sich nicht, dass er in Longstaple je auf ihrem alten Cembalo gespielt hätte. Auf dem Rundgang durchs Haus hatte Lizzie erwähnt, dass Julian und Rowan spielten. Wahrscheinlich war es einer von ihnen.
Emma ließ sich zurück aufs Kopfkissen sinken und sagte sich, dass es völlig egal war, wer da spielte. Es war auf jeden Fall angenehm zu hören, soweit sie überhaupt etwas vernahm, denn die Töne drangen nur ganz leise zu ihr herauf. Mozart vielleicht? Wer auch immer es war, er spielte gut – doch andererseits besaß sie auf diesem Gebiet wahrlich kein Urteilsvermögen und vielleicht filterte die Entfernung ja die falschen Noten heraus.
Morgen früh würde sie fragen, beschloss sie. Und damit drehte sie sich auf die Seite und schlief ein.
Am nächsten Morgen hatten Rowan und Julian bei Mr McShane Griechisch- und Lateinunterricht, und Emma machte sich auf die Suche nach Lizzie.
Sie fand
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