Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
an den kleinen Tisch, den sie neben das Gaubenfenster gestellt hatte, ein Stückchen entfernt vom Tisch der Jungen und dem ihres Vaters. Ihr kleiner, privater Raum, in dem sie lesen und Hausarbeiten korrigieren konnte.
Dort schlug sie den Block auf. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber dies ganz bestimmt nicht. Die Zeichnungen waren wirklich gut. Meist Landschaften – die Felsküste, die steilen Klippen, Ebbington Manor. Und zum Schluss ein paar Skizzen der Chapel of the Rock. Rowan hatte nicht nur Details und Perspektive beachtet, sondern auch die einsame, geheimnisvolle Atmosphäre des Ortes mit dem grauen Himmel und der schäumenden See eingefangen.
Ihr Vater gab den Jungen einen Text zum Lesen, dann entschuldigte er sich; er musste noch einmal in sein Zimmer, um ein Buch zu holen, das er vergessen hatte. Emma bot an, für ihn zu gehen, doch er meinte, es sei einfacher, wenn er selbst ginge, weil er wusste, wo es lag. Hatte er Angst, sie würde es verlieren, so wie sie ihr Tagebuch »verloren« hatte?
Als ihr Vater das Zimmer verlassen hatte, blickte Emma zu Rowan hinüber und sah, dass er sie beobachtete. Er ließ jedoch den Kopf sinken und tat so, als sei er ganz auf den Text konzentriert, den er lesen sollte.
»Die sind sehr gut, Rowan«, sagte sie. »Ich bin beeindruckt.«
Er sah auf; sein Gesicht zeigte für einen kurzen Moment leicht verlegene Freude statt des gewöhnlichen Spotts. Plötzlich sah er viel jünger aus, mehr wie Julian. Er biss sich auf die Lippen, versuchte, ein Lächeln zu verbergen.
Emma fragte: »Wer hat dich zeichnen gelehrt?«
Julian hob den Kopf. »Keiner. Er kann's einfach.«
Rowan schüttelte den Kopf. »Ich hatte ein paar Stunden bei unserem Zeichenlehrer.«
»Bevor er mit der Lehrerin durchgebrannt ist. Alles, was der uns beigebracht hat, war, mit älteren Frauen zu flirten.«
Emma reagierte nicht auf die ungehörige Bemerkung, sondern brachte das Gespräch zurück auf die Kunst. »Zeichnest du auch, Julian?«
Julian zuckte die Achseln. »Nichts im Vergleich zu Rowan. Er ist der Einzige in der Familie mit einer echten künstlerischen Begabung.«
Rowan blickte ihn stirnrunzelnd an. »Nein. Hast du nicht gesehen …«
»Halt die Klappe, Rowan. Henrys Zeichnungen zählen nicht. Du bist viel zu bescheiden, das sage ich schon immer.«
Henrys Zeichnungen ? Sie erinnerte sich nicht, dass Henry oder Phillip irgendwelche künstlerischen Fähigkeiten besessen hätten.
Doch in diesem Augenblick kam ihr Vater zurück und sie konnte nicht weiter fragen.
Er sagte: »Gut, meine Herren. Ich hoffe, Sie haben die Passage gelesen und können mir Ihre Meinung dazu sagen?«
Die beiden jungen Männer wechselten einen aufgebrachten Blick, war das nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit?
Emma sagte hastig: »Ich fürchte, wir haben über andere Dinge geredet. Über Kunst. Meine Schuld, Vater. Könntest du ihnen noch ein bisschen Zeit geben, um den Text zu lesen?«
Er verzog das Gesicht. »Oh – nun gut. Aber bitte lenke meine Schüler in Zukunft nicht mehr ab, Emma.«
Emma spürte, dass sie rote Ohren bekam, als sie so von ihrem Vater zurechtgewiesen wurde, insbesondere vor Rowan und Julian. Doch als sie den beiden einen Blick zuwarf, um zu sehen, ob sie grinsten, war Rowan konzentriert über seinen Text gebeugt und Julian schaute sie mitfühlend an.
Er formte mit den Lippen das Wort: »Danke.«
Sogleich ging es ihr besser.
Henry Weston bekam sie auch den Rest des Tages nicht zu Gesicht. Wie lange es wohl dauerte, den Charakter und die Qualifikationen eines Kandidaten zu prüfen – für welche Aufgabe auch immer? Die einzige Neuigkeit kam von Mrs Prowse, die berichtete,dass sie im Waschhaus nichts gefunden hätte. Emma unterdrückte ein Stöhnen und beschloss, nicht mehr daran zu denken – schließlich halfen ihr die sorgenvollen Gedanken auch nicht weiter.
Als sie an diesem Abend nach dem Essen auf ihr Zimmer ging, brannte im Kamin ein gemütliches Feuer.
Danke, Morva , dachte sie und überlegte, ob das warme Feuer wohl ein Schuldeingeständnis war. Vielleicht hatte Lizzie ihr erzählt, dass sie Emma verraten hatte, Morva würde sich immer beklagen, weil sie Emmas viele Bücher abstauben musste.
Emma nahm einen Zunder vom Kamin, hielt ihn in die Flammen und zündete damit die Lampe auf ihrem Nachttisch an. Sie setzte sich auf die Bettkante, streifte die Schuhe ab und bückte sich, um die Strümpfe auszuziehen. Und da sah sie es. Sie vergaß die Strümpfe und
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