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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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die Bewohner anwesend, als er hereinkam. Der eine Bruder hatte seine Suche mit verwirrtem, der andere mit mürrischem Blick verfolgt. Er machte sich nicht die Mühe zu erklären, was er suchte, und war erleichtert, als er es nicht fand. Zugegeben, er hatte die Zimmer nicht wirklich auseinandergenommen. Der am ehesten Schuldige würde sich wohl ohnehin nicht die Mühe machen, das Blatt besonders gut zu verstecken. Henry gab auf und ging auf sein Zimmer.
    Er gestattete sich nicht allzu oft, das Zigarrenkästchen ganz unten aus seinem Schrank hervorzuholen, ja er musste sogar erst einmal innehalten und nachdenken, bevor ihm wieder einfiel, wann er seinen Inhalt das letzte Mal betrachtet hatte.
    Es war in seiner ersten Nacht in Oxford gewesen, als er furchtbares Heimweh gehabt hatte. Heimweh kannte er gut; das hatte er davor, bei den Smallwoods, auch schon oft gehabt, vor allem im ersten Jahr. Es war schrecklich für ihn gewesen, dass man ihn von zu Hause fortgeschickt hatte.
    Draußen war es grau und nieselig. Irgendwie schien es ihm unglaublich passend, das Kästchen an diesem trostlosen Nachmittag wieder einmal zu öffnen. Er zündete eine Kerze an, setzte sich aufs Bett und hob den Deckel ab. Der vertraute Duft – ihr Duft – strömteheraus und schien ihn mit einer hauchzarten Umarmung zu umschließen, während er die Gegenstände aus dem Kästchen in die Hand nahm.
    Als Erstes zog er ein Papier heraus und entrollte die Bleistiftskizze eines Kindes, Strichmännchenfiguren – ein Mann, eine Frau und eine Schlange. Er wusste, dass die kleinen Ovale mit den Strichbeinen, die darunter hervorkamen, Blätter darstellten, die die Nacktheit der Figuren verbergen sollten, bezweifelte jedoch, dass irgendjemand, der die unbeholfenen Zeichnungen betrachtete, sie als solche erkannte. Die Schlange war wesentlich besser gelungen. Geschwungen und schlechthin perfekt mit Augen und gespaltener Zunge. Jahrelang hatte er nicht gewusst, warum ihm diese Zeichnung so wichtig war; jetzt wusste er es.
    Plötzlich packte ihn die Neugier und aus einem Impuls heraus schlug er den Ärmel seines Gehrocks zurück, hielt sein Handgelenk dichter an die flackernde Kerze und nahm es genau in Augenschein. Nach den vielen Jahren, von dunklen Haaren überzogen, war die Narbe kaum noch zu sehen. Wie die Blätter auf der alten Zeichnung wahrscheinlich nur für ihn selbst erkennbar.
    Henry zog den Ärmel wieder darüber und wandte sich glücklicheren Erinnerungen zu. Er faltete ein Blatt Papier auseinander, das sorgfältig von Hand liniert war. Die Handschrift, mit der es beschrieben war, war gerade und deutlich. Sie sah aus wie die Handschrift der jungen Emma Smallwood. Darauf war zu lesen:
    EMMA MAG MILTON PUGSWORTH.
    EMMA MAG MILTON PUGSWORTH.
    EMMA MAG MILTON PUGSWORTH.
    Wieder und wieder, wie eine Schönschreibübung. Nur dass es nicht Emma Smallwoods Handschrift war. Es war seine eigene, in einer sorgfältigen Nachahmung der ihren. Es war ein Streich; er hatte das Blatt in ihre Fibel gelegt. Sie hatte es ganz und gar nicht amüsant gefunden, die anderen Schüler schon.
    Unter dem linierten Blatt lag ein weiteres steifes Blatt Papier. Dieses trug tatsächlich Emma Smallwoods Handschrift. Es stammte aus Henrys zweitem Jahr in Longstaple und zeigte eine in dicken, deutlichen Buchstaben geschriebene Warnung, die sie an ihre Zimmertür geheftet hatte:
    JUNGEN, DRAUSSEN BLEIBEN
    Darunter stand in kleineren Buchstaben:
    Ja, Henry Weston, damit bist du gemeint.
    Noch jetzt, Jahre später, musste er lachen. Sie hätte wissen müssen, dass ein Junge wie er einer solchen Herausforderung nicht widerstehen konnte.
    Unter dem Blatt lag eine Schachfigur. Eine Königin. Er nahm sie in die Hand und dachte zurück. Eigentlich hatte er sie nur genommen, um sie zu ärgern. Nicht, weil er wütend war, weil sie ihn in dem letzten Spiel geschlagen hatte. Und auch nicht als törichtes, sentimentales Erinnerungsstück.
    Denn Emma Smallwood ertrug es nicht, wenn irgendetwas nicht geordnet war. Sie hatte einen festen Platz für alles und pflegte stets alles wieder an diesen Platz zu räumen, wie sie immer wieder voller Stolz hervorhob. Sie hatte keine Geduld mit Schülern, die ihre Handschuhe oder Stifte oder Fibeln verschlampten. Deshalb hatte er eine ihrer sorgfältig gehüteten Schachfiguren genommen – einfach, um ihr eine Reaktion zu entlocken, was nicht einfach war, denn auf ihre Selbstbeherrschung war Emma Smallwood fast genauso stolz wie auf ihre Ordnungsliebe. Er

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