Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
musste einfach mit einem Freund reden, und zwar allein. Doch als sie ins Frühstückszimmer spähte, sah sie nur Julian, Rowan, ihren Vater und Sir Giles. Wo konnte Phillip um diese Stunde sein? Noch im Bett? Oder war er vielleicht mit Henry ausgeritten?
Sie drehte sich um, ging durch die Halle zu den Fenstern und schaute hinaus auf die Auffahrt und den Garten dahinter. Überrascht sah sie, dass Phillip neben einer Eibe stand und mit Lizzie sprach.Kurz darauf drehte sich das Mädchen um und lief fort. Hatten die beiden sich gestritten?
Lizzie ging vorn am Haus vorbei zur Seitentür. In der Hoffnung, Phillip allein sprechen zu können, lief Emma rasch hinaus.
Sie überquerte die Auffahrt. In diesem Moment kam Henry vom Stall herübergeschlendert. Seine glänzenden Reitstiefel blitzten bei jedem festen Schritt auf, sein zerzaustes, lockiges Haar fiel ihm über den Kragen und wurde ihm vom Wind in die Stirn geweht.
Und jetzt? Sollte sie umkehren? Doch ein Blick auf Phillip zeigte ihr, dass er sie schon gesehen hatte.
Er hob grüßend die Hand. »Hallo, Miss Smallwood. Haben Sie Ihr Tagebuch schon wiedergefunden?«
War es seltsam, dass er sie danach fragte? Konnte er wissen, dass es zurückgegeben worden war? Unsinn, Emma , rief sie sich zur Ordnung. Er zeigt lediglich höfliche Anteilnahme.
Sie trat zu ihm. »Ja, das habe ich tatsächlich.«
Seine Braue hob sich. »Ausgezeichnet. Wo war es denn?«
»In meinem Zimmer.«
»Ah! Die ganze Zeit, oder? Nicht, dass unsere Ordnungsfanatikerin etwas verlegt hätte – nein, niemals!« Er zwinkerte, dann klopfte er ihr auf die Schulter. »Machen Sie sich nichts draus. Wir alle verlegen mal etwas.«
»Das dachte ich zuerst auch. Doch dann musste ich feststellen, dass ein Blatt fehlt.«
In diesem Moment trat Henry zu ihnen.
Phillip nickte ihm zu und sah Emma wieder an. »Herausgefallen, oder?«
»Nein.« Sie ließ sich nicht abspeisen. »Jemand hat es herausgerissen.«
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Henry die Stirn runzelte.
Phillip rollte ein paar Mal von den Fußballen auf die Fersen und wieder zurück und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. »Ich nehme an, es wäre unhöflich, danach zu fragen, was auf der Seite stand?«
Du machst es nur noch schlimmer, wenn du rot wirst und versuchst auszuweichen , ermahnte sie sich, voller Unbehagen, weil beide Brüder sie anstarrten. Bleib ganz sachlich. Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest. Doch noch während sie sich das sagte, spürte sie, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie suchte nach Worten. »Ich … nein. Es war nichts. Nur … Beobachtungen.«
Phillip grinste. »Worüber denn? Oder sollte ich besser fragen, über wen?«
Henry Weston verschränkte die Arme; seine Brauen waren zusammengezogen. »Jemand hat eine Seite aus Ihrem Tagebuch gerissen?«
»Ja. Das Tagebuch wurde aus meinem Zimmer entwendet und letzte Nacht zurückgebracht – mit einer Seite weniger.«
Bei diesen Worten presste Henry Luft durch seine schmale Nase. Oh – sie erinnerte sich gut an diesen Anblick! Und an den Zorn, der jetzt seine grünen Augen verdunkelte.
Er fragte: »Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass das Tagebuch fehlt?«
»Am Sonntagmorgen. Bevor wir zur Kirche aufbrachen.«
»War es noch da, als Sie zum Frühstück hinuntergingen?«
»Ich weiß nicht. Aber am Abend davor habe ich noch etwas hineingeschrieben, da war es also noch da.«
»Julian meint, das Gespenst von Ebbington hätte es weggenommen«, witzelte Phillip.
Henrys ernster Blick blieb auf Emma gerichtet; den Kommentar seines Bruders ignorierte er. »Es tut mir sehr leid, dass das passiert ist, Miss Smallwood. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit die fehlende Seite zurückgegeben wird und so etwas nie wieder vorkommt.«
»Wie um alles in der Welt willst du das anstellen?«, fragte Phillip ungläubig. »Es sei denn, du weißt, wer es genommen hat?«
Henry zögerte, dann sah er seinen Bruder durchdringend an. »Ich habe da eine Idee.« Damit drehte er sich um und ging mit wehendem Mantel davon.
11
Ich bitte um Verzeihung, dass ich dir nicht aus Tunis geschrieben habe … aber die Hitze war so furchtbar und das Licht so schlecht, dass ich halb
blind war, nachdem ich nur einen einzigen Brief geschrieben hatte!
Lady Mary Wortley Montagu, 1718
Henry hatte Schuldgefühle, als er die Zimmer seiner Brüder durchsuchte, Tische inspizierte und Schubladen nach dem fehlenden Tagebuchblatt durchwühlte. In zweien der Zimmer waren
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