Die Tochter des Ketzers
sich fast nahtlos an den Horizont anschloss. Erstmals erblickte sie den Schnabel des Bugs, der mit einem eisernen Drachenkopf geschmückt war, und tatsächlich waren da auch die Ankertaue zu sehen, die stramm gespannt von ihrer Öffnung in das schwarze Wasser ragten.
»Ray, ich ...«, versuchte sie einzuwenden.
Sie kam nicht dazu, den Satz auszusprechen. Während sie noch zögerte, ob es ratsam war, tatsächlich zu fliehen, oder ob sie ihn besser davon abbringen sollte, hatte er ihr bereits einen Stoß versetzt. Sie kippte nach vorne, verlor den festen Halt unter den Füßen und ward vom schweren Oberkörper in die Tiefe gezogen. Noch ehe sie aufschreien konnte, klatschte sie ins kalte, finstere Wasser. Jeder Laut verstummte, salziges Wasser drang in ihren geöffneten Mund, und während sie verzweifelt strampelte und um sich schlug, spürte sie, wie ihr zerfetztes Kleid sich mit Wasser vollsog und sie hinabzog ins Bodenlose.
Noch am Ufer schmerzten ihre Lungen. Zwar war ihr Ray eilig nachgesprungen und hatte sie an die Oberfläche gezogen, noch ehe sie völlig in der kalten Tiefe versinken konnte. Und doch hatte sie das Gefühl, als würde das eisige Wasser ihr sämtliche Luft zum Atmen nehmen. Prustend und keuchend hockte sie schließlich auf festem Boden, fror entsetzlich in der nassen Kleidung und suchte sich ihr Haar zurückzustreichen, das wirr ins Gesicht geklatscht war.
Ray kam früher zu Kräften als sie, sprang auf und schüttelte sich wie ein Hund.
Als sie die nassen Tropfen wie ein feiner Regen trafen, begann sie japsend zu klagen: »Und jetzt? Was tun wir jetzt? Wo sind wir überhaupt?«
Ray pflügte ein paar Mal mit den Händen durch sein nasses Haar. Anstatt struppig hochzustehen, lag es hernach platt gepresst am Kopf.
»Wir sind am Hafen, weiß der Teufel, wie er genau heißt! Aber keine Angst! Wir werden uns durchschlagen, ich schaffe das, und ...«
»Oh, mein Gott!«
Ihr Schreckensruf galt nicht seinen Worten. Eben noch hatten Kälteschauer sie geschüttelt – nun durchfuhr sie siedend heiß eine schreckliche Gewissheit.
Der Schatz.
Sie hatte den Schatz auf dem Schiff vergessen, den ihr der Vater sterbend anvertraut hatte. Kaum hatte sie in den letzten Tagen seiner und der Pflicht, die damit verbunden war, gedacht, hatte die kostbare Schatulle zwar beim Beten angestarrt, doch keinen echten Trost daraus gezogen, nur jene beschwichtigende, wiewohl nicht eben stärkende Gleichgültigkeit. Doch jetzt deuchte sie der Verlust ein übles Omen für ihre Flucht, und der Grimm auf Ray, vorhin einzig gezeugt von seinem rücksichtslosen Drängen, das Schiff zu verlassen, verstärkte sich ob der Einsicht, dass er sie nun bereits zum zweiten Mal um ihren Schatz gebracht hatte – diesmal wohl für immer.
»Die Reliquie!«, klagte sie. »Ich habe die Reliquie vergessen!«
»Ach, komm mir jetzt nicht wieder mit deiner Frömmigkeit!«, murrte er. Die Gereiztheit in seiner Stimme bekundete, dass die Flucht ihm nicht nur die geliebte Freiheit verhieß, sondern eine Gefahr, die noch lange nicht ausgestanden war. »Wir müssen weg von hier, schnell!«
»Aber mein Vater hat doch ...«
»Du solltest mir dankbar sein, dass ich dich aus den Fängen dieser rohen Männer befreit habe. Dein Schatz hat dich nicht davor geschützt!«
»Was hast du getan, Ray? Was hast du nur getan?«
»Nun sei doch ...«
Er hielt mitten im Satz inne, aber nicht weil sie ihn unterbrach. Eben noch hatte er seine feuchten Glieder geschüttelt, nun stand er wie starr. Die Trauer um den verlorenen Schatz verging Caterina augenblicklich, als sie seinem schreckgeweiteten Blick folgte.
Nicht weit von ihnen stand ein Mann, groß, beleibt, mit vielen Warzen auf der dicken Nase – sie waren selbst im schwachen Sternenlicht sichtbar. Er kreuzte die Hände über seinem Bauch, als wäre es ganz gemütlich, hier zu stehen und auf sie herabzuschauen, gewiss, dass sie ihm nicht davonlaufen könnten.
Alsbald verstand Caterina auch, warum. Denn hinter ihm regten sich weitere Schatten und gehörten zu einigen Männern, deren Gesichter nicht weniger finster dreinblickten als jene von Gaspares Mannschaft.
Ray fasste sich als Erster wieder. Unwillkürlich stellte er sich schützend vor Caterina, doch der Mann voller Warzen starrte auch weiterhin genüsslich vor allem auf sie.
»Ei, was ist denn da für ein hübsches Mädchen den Meeresfluten entstiegen?«, fragte er. Seine Augen mochten freundlich blicken, seine Worte hingegen klangen wie das
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