Die Tochter des Ketzers
Vermögen war stets zu vertuschen, dass ich nichts tauge, dass ich alles nur ein bisschen kann – und hier auf diesem verfluchten Schiff nicht einmal das.«
Seine Hand löste sich von den verkrusteten Narben.
»Ich habe mich nie schlecht gefühlt dabei, nie«, fuhr er fort. »Da konnten mir Menschen wie du noch so oft sagen, dass ich ein Nichtsnutz sei und ein Sünder. Alles ist leicht, wenn man nur weiß, wer man ist, wenn man sich nichts vormacht. Ich habe mir nie etwas vorgemacht; ich wusste um meine Schwächen und Mängel – und ich wusste auch, dass ich mich durchbringen kann ...«
Er blieb vor ihr stehen, blickte auf sie hinab, plötzlich so sehnsüchtig, als könnte sie ihm zurückgeben, was er verloren wähnte.
»Ray, hör auf, ich bin müde«, murmelte sie.
»Willst lieber schlafen, als mit mir zu reden? Lieber schlafen, als mich zu beschimpfen? Ach, beschimpf mich doch! Sag, dass alles Übel von mir kommt! Dass ich uns selbst das alles eingebrockt habe! Fordere mich heraus! «
»Lass es gut sein, Ray, lass es gut sein.«
Er wandte sich ab, rang seine Hände, entfernte sich mit unruhigen Schritten.
»Ach verdammt!«, rief er plötzlich aus, als sie schon dachte, er würde schweigen. »Ach verdammt, ich möchte einfach nur wieder ... das Leben spüren! Ich möchte es besitzen, und ich möchte es verschleudern, ganz wie es mir gefällt, und ich möchte nie wieder an dieses enge, stickige Loch hier denken und ...«
Er brach ab. Sie erwartete, dass er ähnliche Wünsche benennen würde wie vor einigen Tagen. Dass er Wein zum Saufen wolle. Huren, die für ihn ihre Schenkel spreizten.
Doch er sprach nicht weiter. Mit festen Schritten kam er auf sie zu, packte sie an der Hand und zerrte sie in die Höhe. Sie hatte das nicht erwartet, sich nicht dagegen wappnen können, weil es so schnell geschah. Kaum stand sie, nahm er mit einer weiteren heftigen Bewegung ihren Kopf zwischen seine Hände und presste sein Gesicht daran. Sie wusste nicht, was ihr geschah, da fühlte sie seine Lippen fordernd und hungrig auf ihren. Schon einmal hatte er sie geküsst, jedoch nur auf die Stirne, zu weich und zu sanft, als dass dahinter sonderlich mehr zu erahnen gewesen wäre als der brüderliche Wunsch, ihr Wärme und Trost einzuhauchen. Nun schien es, als wollte er sich diese Wärme zurückholen, roh und gierig. Er begnügte sich nicht nur damit, seine Lippen auf den ihren zu reiben, sondern presste auch seine Zunge dagegen, und sie war zu überrumpelt, um sich dagegen zu wehren. Ihre Lippen öffneten sich, gewährten der forschen Zunge Einlass. Rau fühlte sich jene an, salzig ... und irgendwie kitzlig. Ein eigentümliches Kribbeln stieg ihr in den Kopf, löste die Starre, mit der sie anfangs auf seine plötzliche Umarmung reagierte.
Sie riss den Kopf zurück. »Wie kannst du nur!«, zischte sie, doch noch ehe sie den Mund wieder schließen konnte, hatte er den seinen wieder darauf gesenkt, wieder mit hungrig mahlenden Bewegungen, heiß und feucht. Sie hatte nicht das Ge- fühl, er würde sie küssen, sondern sie langsam aufessen. Gewiss würde ihre Haut platzen, zum nackten Fleisch würde er vorstoßen, es verzehren, sich daran stärken. Vielleicht blieb am Ende nichts von ihr übrig als eine erbärmliche leere Hülle. Doch was immer er ihr rauben wollte – es schien nicht zu schwinden, sondern mehrte sich. Wärme, so viel Wärme. Jene war wendig; schlich sich am aufkommenden Ekel vorbei; hüllte seine Gier ins Gewand der Vertrautheit. Zwar war jene so ähnlich: den gewaltsamen Händen, die sie gepackt gehalten hatten, den ro : hen Körpern, die den ihren bestiegen und zerrissen hatten – aber sie zeigte sich nicht feindselig. Sie war von einem Geruch begleitet, den sie kannte. Kam in einem Leib, an den gepresst sie so oft gelegen hatte. Gehörte zu einer Stimme, die sie getröstet hatte.
Jetzt war sie nicht mehr sicher, ob er sich ihrer Stärke bemächtigte oder ob nicht in Wahrheit sie es war, die etwas von ihm geschenkt bekam: Erregung, Hast, Ungeduld, alles schmerzhaft – fast so schmerzhaft wie der Aufruhr, der sie in ähnlicher Wucht so oft getroffen hatte, nur weicher, geschmeidiger, süßer. Es tat weh, aber nicht so, wie es sich anfühlt, wenn eine Wunde geschlagen wird, sondern wenn man sie reinigt, den Schmutz mit heißem, klarem Wasser ausspült, brennend, aber mit dem Willen zu heilen.
Ein Gedanke ging ihr durch den Kopf, der sie ebenso unpassend wie richtig deuchte, ein Gedanke an Gaspare. Nicht weil
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