Die Tochter des Ketzers
losgelassen.
Misstrauisch sah sie ihm zu, wie er das Nachtlager bereitete, indem er ein großes Stück Leder auseinanderrollte, über den Wagen spannte und mit glatt geschliffenen Ästen feststeckte.
»Was schaust du denn so?«, fragte er belustigt, als er ihren Blick bemerkte. »Hast du Angst, ich könnte über dich herfallen, wenn wir das Lager teilen?«
Röte schoss ihr ins Gesicht. Allein daran zu denken war unsittlich – um wie viel mehr darum, es auszusprechen. Die Wahrheit war auch: Dies hatte sie nicht im Sinn gehabt, jedoch die Ahnung, dass es unanständig war, allein bei einem Mann zu schlafen. Ihr Vater hätte das nicht gutgeheißen. Allerdings hatte der Vater ihr eine Pflicht aufgetragen, die sie ohne Hilfe niemals würde erfüllen können.
»Wir machen’s so«, sagte er indes lachend und schien ihre stummen Nöte zu erahnen. »Ich leg mich auf den kalten Boden und sehe zu, dass ich dort nicht erfriere. Und du legst dich in den Wagen und hast es dort kuschelig warm.«
Sie folgte seinem Vorschlag nur allzu bereitwillig, obwohl sie von besagter Wärme nicht viel zu spüren bekam in ihren dünnen Kleidern.
Keine der letzten Nächte war so kalt gewesen wie diese; das über sie gespannte Leder vermochte sie vor dem pfeifenden Wind nicht zu bewahren, und als sie Stunden später von einem unruhigen Schlaf erwachte, war ihr Nacken steif und schmerzte.
Pèire hatte die Tochter bescheiden erzogen und jegliche Bequemlichkeit abgelehnt. Anstelle von Seide, wie andere feine Herrschaften sie verwendeten, waren ihre Kissenbezüge aus grobem Leinen gewesen; die Kissen selbst waren nicht mit Federn gefüllt gewesen, sondern mit Wolle. Und doch verhieß die kärgliche Bettstatt ihres einstigen Zimmers, obendrein gewärmt vom Kohlebecken, das auf drei Füßen stand, einen nun unerreichbaren Himmel. Schwer fiel es, am nächsten Morgen nicht verzagt zu sein, als ihr Blick auf den zerschlissenen Mantel fiel, den Ray ihr zum Zudecken überlassen hatte. Sie wusste nicht, wovor ihr mehr grauste: vor dessen unergründlichen Flecken, die erst jetzt bei Tageslicht sichtbar wurden, oder vor der Pflicht, ihm dankbar zu sein, weil sie sich damit hatte zudecken können.
Ächzend erhob sie sich, trotz Schmerzen und Müdigkeit zumindest klar genug, um ihre morgendlichen Pflichten zu erfüllen, und dazu gehörte das Gebet.
»Pater noster, qui es in caelis, sanctificetur nomen tuum ...«
Sie war so versunken – genau betrachtet nicht in die Worte, sondern einzig darin, den Schmerz in ihren Knien zu vergessen –, dass sie kaum gewahrte, wie Ray sich fröstelnd hin und her wälzte, um hernach mit einem Fluch hochzufahren.
»Herrgott, verdammt! Ich vertrag das Saufen nicht! Mein Schädel platzt gleich!«
Sie erschauderte, dass er mit einem Fluch ihr Gebet unterbrach. Er achtete nicht darauf, sondern sprang – zwar ein wenig schwerfälliger als gestern, aber immer noch wendig wie eine Katze – vom frostigen Boden hoch.
»Los, weiter!«, rief er ihr über seine Schultern zu und rieb seine zu Fäusten geballten Hände aneinander, »’s ist ja kein Aushalten hier in der Kälte. Lass uns zusehen, dass wir aus dem Schatten der Bäume kommen!«
Sie reagierte nicht, sondern blickte starr auf den Boden.
»Panem nostrum quotidianum da nobis hodie ...«
»Hast du mich nicht verstanden? Auf geht’s!«
» ...et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. Et ne nos inducas in tentationem.«
Er verdrehte die Augen und schnaufte. »Eine Frömmlerin! Hab’s ja gestern schon befürchtet, als du von deinem seltsamen Schatz berichtet hast.«
Langsam hob sie den Blick und starrte ihn kalt an. Sie nannte ihn kein weiteres Mal einen Sünder – es schien sich nicht zu lohnen –, aber ihre Augen ließen keinen Zweifel daran, was sie über ihn dachte.
Sie nahm das Bündel mit dem Schatz und drückte es an sich.
»Du ... du hast mir gestern nicht gesagt, ob du mir helfen willst ...«
»Und du hast mir noch nicht verraten, was mit einem würdigen Bestimmungsort gemeint ist. Das wollte dein Vater doch ... dass du ihn irgendwohin schaffst, wo die Leute ehrfürchtig davor auf die Knie sinken ... so wie er’s immer getan hat, oder? Nun, es wird ihn nicht wieder lebendig machen, mag sein Name auch als der eines edlen Gönners in irgendeinem Kirchenbuch festgehalten werden. Was also willst du machen?«
Sie senkte den Blick. Die Wahrheit war, dass sie gehofft hatte, in ihrem Oheim Raimon den Mann zu finden, der
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