Die Tochter des Ketzers
die Stadt überragte, fügte er hinzu: »Hier baut man auch ... seit vielen Jahren schon an einem neuen Schloss, dem Castell Rei. Am besten, du wartest hier auf mich.«
Caterina war von dem riesigen, würfelförmigen Gebäude aus rotem Stein so abgelenkt, dass sie kaum auf seine letzten Worte achtete. Nichts war hier von den Türmen und Erkerchen der Burganlage von Carcassonne zu erkennen. Die Mauern, die wie eine Wand vor ihr aufragten, waren ebenso glatt wie schmucklos. Winzig klein waren die Gucklöcher, von denen sie dann und wann durchbrochen war, ohne dass jene freilich den Blick ins Innere freigegeben hätten.
»Und wo residiert der Bischof?«, wollte Caterina fragen, verstand sie doch nicht, warum Ray sie ausgerechnet hierher geführt und obendrein verlangt hatte, sie möge auf ihn warten. Als sie sich nach ihm umdrehte, entfuhr ihr ein leiser Schrei, denn ohne weitere Vorwarnung war er verschwunden – in jenes Menschendickicht, das eine einzelne Gestalt nur allzu schnell verschlucken konnte.
»Ray!«, schrie sie in höchster Aufregung. »Ray!«
Er antwortete nicht. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
Über Stunden kehrte er nicht wieder. Dass er den Holzwagen zurückgelassen hatte, erfüllte sie anfangs mit Erleichterung, verhieß es doch, dass er gewiss nicht lange fortbleiben wollte. Doch als er auch am späten Nachmittag, da die Sonne abendlich errö- tete, nicht zurückkam, so begann sie sich immer weiter von dem Gefährt zu entfernen und an die fünfzig Schritte unruhig spähend auf und ab zu laufen. Wo blieb er nur? Was hatte er so plötzlich zu erledigen?
Sie haderte mit dem Umstand, dass sie so wenig über seine wahren Motive wusste, dass so vieles rätselhaft gewesen war – sein Schweigen in den letzten Tagen, auch der Vorfall in Carcassonne, als er vorgab, der Vater eines entehrten Mädchens hätte ihn zusammengeschlagen. Das mochte vielleicht der Wahrheit entsprechen, doch nun, da sie daran dachte, fiel ihr wieder das absonderliche Lederbeutelchen samt seines Inhalts ein, das sie damals in seinem Wagen gefunden hatte und nach dem sie ihn nicht gefragt hatte. Vielleicht war das ein Fehler gewesen, vielleicht hätte sie versuchen müssen, mehr aus ihm herauszulocken – dann würde sie womöglich nicht so ratlos hier stehen und über Stunden auf ihn warten müssen!
Stiller war’s nun geworden. Ins Gesumme der Menschen mischte sich das Rauschen der Olivenbäume, der Steineichen und des Judendorns, die hier, in der Nähe des Palastes wuchsen. Wiewohl sie hier nicht im Marktbereich war, ging mancher Handwerker in zur Straße hin geöffneten Werkstätten seiner täglichen Arbeit nach: Zimmerleute, die offenbar am meisten am Wachsen der Stadt verdienten, desgleichen Besitzer von Webereien, Waffenschmieden und Mühlen.
Nirgendwo wagte Caterina lange stehen zu bleiben, um nicht als einsames Mädchen die Blicke auf sich zu ziehen. In einer dieser offenen Werkstätten jedoch erblickte sie so Absonderliches, dass sie nicht umhinkonnte, innezuhalten und kurz zu vergessen, dass sie nach Ray Ausschau zu halten hatte.
Da war ein riesiges Stück Kalbspergament aufgespannt – so hoch, wie sie selbst groß war, und kaum weniger breit, doch anstelle von Buchstaben malte der Mann, der davor saß, eigentümliche Formen darauf, verwackelte Kreise und schiefe Striche.
Dies nun deuchte sie die größte Verschwendung von Pergament, die sie je erleben musste. Ihr Vater war stets so stolz auf die wenigen Bücher gewesen, die sich in seinem Besitz befanden, dass er sie nur ehrfurchtsvoll und vorsichtig berührte. Pergament zu beschreiben hielt er für ein ganz außergewöhnliches Privileg, das nur den wichtigsten Mitteilungen vorbehalten war, und auch jene blieben meist nur für kurze Dauer festgehalten, ehe sie zugunsten neuen Textes abgeschabt wurden.
Dieser Mann jedoch wagte es, Pergament in großen Mengen zu verprassen, und das obendrein für unnütze Zeichnungen!
Er schien ihren vorwurfsvollen Blick zu bemerken, denn nun hob er sein verrunzeltes, längst vom Leben verdorrtes Gesicht und rief ihr fremd klingende Worte zu – offenbar die Frage, warum sie ihn so aufdringlich anstarrte. Caterina zuckte zusammen, hob abwehrend die Hände und murmelte eine Entschuldigung auf Okzitanisch, danach auf Französisch.
Zu ihrem Erstaunen schien der Mann sie zu verstehen, denn schon sagte er in gleicher Sprache: »Du weißt nicht, was ich hier tue, nicht wahr?«
Caterina hätte vor Scham in den Boden versinken
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