Die Tochter des Ketzers
schneller. Sie spürte Wärme, zittrig und feucht. Von seinen Händen kam sie, die davon zeugten, dass er das Angstschlottern nicht hatte ablegen können.
Sie wusste nicht, wo diese Hand sie betastete, ob sie sie prüfend befühlte oder tröstend streichelte. Sie wusste nur, dass sie unerträglich war.
»Fass mich nicht an!«
Er zuckte augenblicklich zurück. Doch der Klang der eigenen Stimme war erschreckender als seine Nähe. Am liebsten hätte sie sie erbrochen – diese röhrende Stimme, diese Schmerzen, von denen sie zeugte, überhaupt den ganzen Rest, der von ihr verblieben war, kümmerlich und gallig.
»Es tut mir so leid«, murmelte Ray. »Es tut mir so leid.«
Es tut ihm leid, aber er trägt Schuld, dachte Caterina. Er hat es nicht gewollt, aber wenn es ihn nicht gäbe, wäre mir das alles nicht passiert. Ich hasse ihn. Ich werde ihm nie verzeihen können.
»Fass mich nicht an!«, wiederholte sie, aber es klang zaghafter, schon nahm sie das eben gefällte Urteil zurück.
Ich hasse ihn nicht, ich darf ihn nicht hassen. Ich verzeihe ihm, ich muss es tun.
Zerstörung, Schande, Schmerz, Erniedrigung- alles prasselte auf sie ein, ohne Schonung, ohne Pause. Nur eine der zerstörerischen Mächte hielt sie noch nicht in ihren Fängen. Die Einsamkeit wurde von jenem Schatten, der nicht weit von ihr saß, in Schach gehalten.
Nicht beides, durchfuhr es sie. Ich kann nicht beides ertragen. Nicht diese Schande – und die Einsamkeit.
»Geh nicht weg!«, hörte sie sich murmeln. »Fass mich nicht an ... aber geh nicht weg!«
Sie wusste nicht, ob er neben ihr hockte, ob er saß oder stand. In jedem Falle war er so nah, dass sie die Wärme seines Körpers fühlen konnte, ohne zugleich berührt zu werden. Nichts Tröstendes hatte die Wärme, nichts Fürsorgliches seine offensichtliche Bereitschaft, ihrem Wunsch zu folgen. Doch seine Wärme verlieh ihr zumindest das Vermögen, sich ächzend aufzurichten, linderte zwar nicht die Schmerzen, aber ließ es zu, dass sie diese Schmerzen beschreiben konnte, langsam erkennen, woher sie kamen, wovon sie ausgelöst wurden.
Erstaunlich nüchtern fiel es ihr wieder ein. Man hat mich geschändet, man hat mir meine Jungfräulichkeit, meine Ehre geraubt. Rasch zerfiel diese große Wahrheit in lauter kleine Sätze, die für sich betrachtet nichts mit ihr zu tun zu haben schienen.
Sie haben mich herumgeschubst.
Sie haben mich prüfend befingert.
Sie haben gelacht und gegrölt.
Es waren viele. Unzählbar viele.
Caterina fühlte, wie der warme Schatten neben ihr neuerlich erbebte. Vielleicht brachten ihn Furcht und Verzweiflung dazu. Vielleicht das Schaukeln des Schiffes, auf dem sie sich befanden und das dessen Kapitän Bonanova genannt hatte. Vielleicht weinte er. Absonderlich schien es ihr, dass jemand wie Ray weinte.
Sie hatten ihr das Kleid zerfetzt. Sie hatte gespürt, wie es riss, wie die feuchte Meerluft die nackte Haut traf. Sie hatte gefröstelt und sich so geschämt, dass sie dachte, sie müsse augenblicklich sterben. Nie hatte sie sich selbst nackt betrachtet, vielmehr stets die Augen geschlossen, wenn sie ein Kleid wechselte, so wie es auch die Jungfrau Maria stets getan hatte, das zumindest hatte der Vater ihr erzählt. Nun hingegen wurde sie von vielen fremden Augenpaaren in ihrer Blöße angestarrt, und niemanden strafte Gott mit Erblindung, so wie er all jene gestraft hatte, die sich an der erzwungenen Nacktheit der Heiligen Agnes geweidet hatten, ehe jene das Martyrium erlitt.
Ich ertrage das nicht, hatte sie gedacht, ich ertrage das nicht.
Erst dann hatte sie begreifen müssen, dass man zwischen Wachheit und Ohnmacht nicht selbst wählen darf. Umsonst wartete sie darauf, dass das jeweils Schrecklichere, was man ihr zufügte, den Geist endgültig umnebeln würde. Doch der gnädige Schleier senkte sich nicht über sie, selbst jetzt nicht. Die Splitter kündeten von Gebrochenheit, aber jeder für sich war glasklar.
Holz. Raues Holz. Viele kleine Splitter, die in ihr Fleisch schnitten, als man sie auf den Boden drückte, am Rücken, an den Armen, an den Beinen. Man hielt sie an den Handgelenken gepackt und an den Fußfesseln, zerrte den Körper auseinander, als wolle man sie vierteilen. In diesem Augenblick hatte ihre Angst erstmals nicht der Schande gegolten, sondern der Möglichkeit zu zerreißen. Doch man hatte sie nicht zerrissen. Man hatte ihr ein Schwert in den Leib gestoßen, eines und dann immer mehr. Es hatte für sie keinen Unterschied gemacht, ob
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