Die Tochter des Königs
Kummer mit wachsender Hilflosigkeit beobachtet. Er war derjenige, an den sie sich immer um Rat gewendet hatte, und sie war noch nicht bereit, die Bürde zu schultern, die er an sie übergeben wollte.
Nachdenklich ging sie in den Raum, in dem sie die Kranken und Verletzten empfing, die sie um Hilfe aufsuchten. Sie spürte, wie der Raum sie mit seinem Frieden erfüllte. So erging es ihr immer, und das war einer der Gründe, weshalb sie sich hier so gern aufhielt. Ihre eigene kleine Zuflucht, in der es immer nach getrockneten Kräutern roch. Vor dem kleinen Altar der Göttin Brigid brannte eine Öllampe, deren süßer Duft sich unter die anderen Aromen mischte. Gedankenvoll betrachtete Eigon den Altar. In diesem Haus wurden viele Götter verehrt, die Götter des Haushalts, die Götter des Heilens, die Göttin des Fiebers, die Götter Britanniens und die Götter Roms, und jetzt, seit Petrus gekommen war, um mit ihrem Vater zu sprechen, ihm die Hand auf die Stirn zu legen und für ihn zu beten, auch der Christengott Jesus. Eigon betrachtete den kleinen geschnitzten Fisch, den sie auf den Altar gestellt hatte. Das geheime Symbol, das die Christen untereinander als Erkennungsmerkmal verwendeten. Eigon lächelte. Wie viele andere gebildete Römer sprach auch sie Griechisch, Melinus hatte es ihr im Lauf der Jahre beigebracht, und Griechisch war auch
der Ursprung dieses Symbols: Icthus , der Fisch. Die Buchstaben standen für Iesous Christos Theou Huios Soter , Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser.
Der Christengott war voller Liebe und Güte. Petrus beteuerte, dass Er sich um die Menschen kümmerte, und in der Tat, seitdem Petrus mit Caratacus gesprochen hatte, kam ihr Vater allmählich wieder zu Kräften, obwohl er nicht in eine Taufe eingewilligt hatte. Zumindest nicht damals. Eigon überlegte. Wie ging das Gebet, das sie sprachen? »Vater unser«, so sagten sie. Und er war ein gütiger, fürsorglicher Vater. Ein Schäfer, der sich um seine Schafe sorgte. Ein Gastgeber, der seinen Gästen zu essen gab und sicherstellte, dass ihnen der Wein nicht ausging. Eigon erinnerte sich an das Gesicht ihres Vaters, als er diese Geschichte hörte. Das Zucken um seine Lippen, das anerkennende Blitzen in seinen Augen. Das hatte ihn nicht minder auf den Weg der Genesung gebracht als Petrus’ Berührung. Eigons Miene verfinsterte sich. Noch wagte sie nicht zu glauben, dass er wieder ganz gesund war. Allzu oft war im Lauf der Jahre eine Besserung eingetreten, die einige Wochen oder Monate andauerte, und wenn dann die Sommerhitze einsetzte und die Luft verpestet wurde, war er binnen Tagen so schwach wie zuvor. Aber jetzt war er kräftiger, als Eigon sich je erinnern konnte, die alten Wunden plagten ihn weit weniger. Vielleicht hatte Jesus ihn geheilt.
Sie sah sich in dem kleinen Raum um, betrachtete die aufgereihten Gefäße mit ihren Wachssiegeln, die zu Sträußen gebundenen Trockenkräuter, die an einem Deckenbalken von Haken in der Form von Vogelklauen hingen. Die waren ein Geschenk Julias, das einer von Flavius’ Freunden angefertigt hatte. Eigon ging zu ihrer Arbeitsbank hinüber. Sie war sauber gefegt, keine Kräuterbrösel lagen herum, wie sonst oft. Auf einer Seite stand ein Stapel kleiner leerer
Gefäße, auf der anderen Wachstäfelchen und ein Stilus. Daneben lagen zwei Schriftrollen mit sorgsam kopierten Rezepturen für Kräutermischungen gegen die diversen Gebrechen, unter denen die Mitglieder des Haushalts am häufigsten litten; sie alle kamen mittlerweile, wenn sie krank wurden, ganz selbstverständlich zu Eigon.
Hinter ihr ging die Tür auf, erschreckt drehte sie sich um. Aelius stand vor ihr. Sein Gesicht war weiß. »Herrin Eigon, im Hof sind Soldaten. Sie verlangen, Euch zu sehen.«
»Soldaten?« Angst durchfuhr sie wie ein Dolchstoß.
»Prätorianer.«
»Haben sie gesagt, was sie wollen?«
Aelius schüttelte den Kopf. »Ich dachte, sie wollten mit dem König sprechen, aber sie bestehen darauf, Euch zu sehen.«
Sie atmete tief durch. »Ich bin bereit, den befehlshabenden Offizier im Atrium zu empfangen, Aelius. Seine Männer sollen draußen bleiben. Und ich möchte, dass du während der Unterredung dabei bist.« Sie wappnete sich innerlich und tat ihr Bestes, ruhig zu klingen.
Es war nicht er. Im ersten Moment hatte sie befürchtet, er sei es leid geworden, darauf zu warten, dass sie einmal nicht auf der Hut war, und wolle sie selbst holen kommen. Der Mann, der vor ihr salutierte, war ihr nicht
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