Die Tochter des Königs
draußen. Denk dran, was ich dir gesagt habe. Im Kühlschrank ist reichlich zu essen. Du weißt, wo alles steht. Bleib hier und verhalte dich ruhig. Ruf niemanden an. Ich werde Kim Bescheid sagen, damit sie weiß, dass du bei mir bist. Bleib über Nacht. Wenn ich heute Abend nicht heimkomme«, sie warf Henrico einen koketten Blick zu, »mach dir keine Sorgen. Ich komme spätestens morgen Vormittag, und dann reden wir weiter. Aber bevor ich gehe, muss ich dir noch etwas sagen. Komm mit.« Sie führte Jess ins Schlafzimmer und schloss die Tür. »Ich muss dir beibringen, dich psychisch zu schützen. Durch Eigon kommst du an Orte, die gefährlich sind, aber du kannst dafür sorgen, dass dir nichts passiert. Folge Eigon nicht in die Vergangenheit. Beobachte alles, aber nimm nicht daran teil. Stell dir vor, dass du von einem Flammenkreis umgeben bist. Bring Licht an die dunklen Stellen. Sei dir der Gefahren bewusst. Schütz dich, Jess, das ist wichtig! Und vergiss nicht, du darfst Titus’ Namen nicht aussprechen, nie! Pass auf, dass du immer bei dir bleibst. Umgib dich mit Begleitern und Engeln. Christliche Gebete helfen da nicht weiter, du musst ihm mit seinen eigenen Göttern entgegentreten. Beschwör dein Krafttier. Wen immer du als inneren Freund siehst, bitte ihn, dich zu beschützen. Halt den Raum um dich psychisch rein. Komm, ich zeige dir, was du tun musst.«
Nachdem Carmella und Henrico gegangen waren, war es in der Wohnung sehr still. Jess schlenderte auf die Terrasse hinaus und sah sich um. Hier fühlte sie sich sicher, fast wie in einer anderen Welt. Sie setzte sich an den kleinen schmiedeeisernen Tisch und dachte über Carmellas Worte nach. Sie, Jess, war in Eigons Drama eine stille Beobachterin. Das stimmte. Sie war keine handelnde Figur, sie war nicht vorhanden. Es gab nichts, das sie tun konnte, um die Vergangenheit in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Aber geschützt durch Carmellas Rituale konnte sie sie beobachten. Und vielleicht, wenn sie sie eingehend genug beobachtete, konnte sie die Hand zum geöffneten Fenster ihres Lebens hineinstrecken und die Figuren warnend berühren.
Julius widersetzte sich Cerys’ Verbot und überbrachte Eigon die Nachricht selbst. »Es ging sehr schnell. Er kann nicht gelitten haben.«
Sie zupfte nervös am Saum ihrer Stola und kämpfte gegen die Tränen.
Julius schluckte schwer. Am Tag vor den Hinrichtungen hatte er Melinus im Mamertinischen Kerker besucht. Nero hatte dafür gesorgt, dass für das Spektakel reichlich Männer und Frauen zur Verfügung standen. Einige von ihnen waren Christen, denen die Römer insgesamt misstrauten, andere waren Mörder oder Verräter, von denen Nero sich persönlich bedroht fühlte. Und sie alle waren zur schlimmsten Form der Todesstrafe verurteilt. Julius hatte sich gezwungen, in der Arena zu stehen und zuzusehen. »Ich werde für dich dort sein, mein Freund«, hatte er Melinus zum Abschied gesagt. »Großvater soll nicht kommen, er ist nicht genug bei Kräften. Aber ich werde da sein und dich mit meinen Gebeten stützen. Deine Götter und mein Gott werden dir zur Seite stehen. Du hast auf den
Rängen einen Freund, der dafür Sorge trägt, das verspreche ich dir.«
Melinus hatte matt gelächelt. »Ich bin felsenfest überzeugt, dass ich ins Land der ewigen Jugend komme, Julius, in das Land meiner Ahnen. Es wird ein glücklicher Tag für mich sein. Ich segne das Tier, das es auf sich nimmt, mein Leiden zu beenden, und ich vergebe ihm.«
»Alter Freund, das ist ein christlicher Glaube«, spottete Julius liebevoll. »Jetzt verstehe ich, weshalb Eigon dich immer ihren christlichen Druiden nennt.«
Melinus lachte wehmütig. »Vermutlich hat sie Recht, wie mit so vielem anderen. Ich vertraue sie deiner Obhut an, Julius.« Er holte tief Luft. »Gestern Abend kehrte die Kraft des Hellsehens, die mich so lange verlassen hatte, wieder zurück. Ich habe ihren Feind gesehen. Der, wie es scheint, auch der meine ist. Es ist ein Mann, der in der Stadt lebt, ein Mitglied der Prätorianergarde, und er trachtet ihr nach dem Leben. Er hat Angst vor ihr, und er ist wütend auf sie. Weshalb, das haben die Götter mir verborgen. Sie verhüllten die Vergangenheit, in der die Gründe dafür liegen, aber ich habe einen Verdacht. Dieser Mann steckt hinter meiner Verhaftung, und auch hinter der Verhaftung Pomponia Graecinas. Weil er Eigons Feind ist, ist er auch dein Feind. Er ist der Feind aller, die sie lieben. Beherzige meine Worte, Julius. Sei
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