Die Tochter des Königs
einverstanden?«
Jess schaute sich ein paar Sekunden im Spiegel an, dann griff sie nach Carmellas Kamm und fuhr sich durchs Haar. Ihr Gesicht war sehr blass. »Momentan geht’s uns dick ein, Eigon. Dir und mir«, murmelte sie. Sie beugte sich weiter vor und kniff die Augen zusammen. Das zweite Gesicht, das sie im Spiegel sah, war eher vage. Sie drehte sich um. Es
war, als würde sie durch eine Art Glaswand in ein anderes Zimmer blicken. Sie sah Eigon an ihrer Werkbank stehen, wie sie einen Kräutersud zubereitete und achtsam heißes Wasser in die Schale goss. Sie sah das kleine Kohlebecken und den Topf, in dem Eigon das Wasser erhitzt hatte, die Regale mit den Flaschen, Krügen und Kästchen an der Wand hinter ihr, die ordentlich aufgereihten Sonden und Pinzetten, das kleine Skalpell, eine Schüssel, die offenbar Moos enthielt, einen Stapel sorgsam gefalteter Leinenbinden. Von der Decke hing über ihr ein Kräuterbündel.
»Eigon? Hörst du mich?«, fragte sie im Flüsterton.
Eigon schaute auf und zog die Stirn kraus. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
»Ich habe auch Schwierigkeiten.« Jess warf einen Blick zur Tür, sie flüsterte immer noch. »Titus steckt jetzt in Daniels Kopf. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Sie brach ab. Eigon hatte sich vom Tisch abgewandt, schaute aber nicht zu ihr, sondern zur Tür. Die ging auf, und ein alter Mann trat herein. Jess stockte der Atem. Der Anführer der Christen in Rom. Petrus.
Der heilige Petrus.
»Wie geht es ihm?«, fragte Eigon. Tränen standen ihr in den Augen.
»Sein Herz ist schwach, Eigon.« Petrus schüttelte den Kopf.
»Kann Jesus ihn nicht heilen? Ich dachte, er könnte alles.«
Petrus lächelte. »Das kann er auch, mein Kind. Aber er weiß, dass manchmal ein anderer Weg der bessere ist. Wir können nicht ewig leben. Das gehört zu Gottes Plan für uns. Dein Vater ist müde, Eigon. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Und er lässt sich nicht taufen.«
»Da ist er wie mein Freund Melinus. Er will sich alle Möglichkeiten offenhalten.« Petrus lachte leise. »Genauso wie eine junge Frau, die in diesem Moment nicht so sehr weit von mir entfernt steht. Jesus verlangt unsere ganze Hingabe«, fuhr er streng fort, doch dann wurde sein Ton wieder sanfter. »Aber er weiß auch, wie schwer es ist, sich zu verändern. Er weiß, dass wir Menschen sind und deshalb schwach. Er wird deinen Vater segnen.«
»Mein Vater will in den Himmel unseres eigenen Volks. Er will in das Land seiner Geburt zurückkehren. Er hat mir gesagt, dass Jesu Himmel klingt wie Neros Gärten. Da will er nicht hin.«
Petrus lachte schallend. »Der Herr Jesus gestaltet seinen Garten nicht nach dem Vorbild des Kaisers von Rom.« Dann sah er Eigon an und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Jesus hat uns gesagt, dass in seinem Haus viele Wohnungen sind. Ich bin mir sicher, dass es ebenso viele Gärten hat. Es gibt einen für deinen Vater, und auch einen für dich.« Er zog einen Schemel zu sich. »Ich habe für dich gebetet, Eigon, viele Male. Melinus sah viel Kraft und viel Gutes in dir, meine Tochter. Er bat darum, mich um dich zu kümmern.«
»Melinus war ein guter Mann«, sagte Eigon traurig.
»Das stimmt. Und ich werde dir ein Geheimnis verraten. Im Gefängnis habe ich ihn getauft, Eigon. Am Abend vor seinem Tod. Er starb im Wissen, dass er zu meinem Vater und zu deinem Vater in den Himmel gehen würde. Und er wusste, dass die Insel der Seligen auf ihn wartete.«
Verblüfft sah Eigon ihn an. »Du weißt von Tir n’an Og?«
»Das ist nur ein anderer Name in einer anderen Sprache. Gott hat mir aufgetragen, zu allen Menschen zu predigen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Sprache. Ich muss sein Wort überall unter den Menschen verbreiten.«
»Aber …«
Petrus hob abwehrend die Hand. »Hör mir zu. Jesus hat dich für eine besondere Aufgabe erwählt.«
»Mich?« Sie wurde blass. »Nein!«
»Wenn dein Vater stirbt, Eigon, und er wird bald sterben, wirst du dich damit abfinden müssen.« Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Du sollst in deine Heimat zurückkehren und den Menschen von Jesus erzählen.«
»Aber ich bin nicht getauft.«
»Nein.«
»Du möchtest, dass ich mich taufen lasse?«
»Natürlich. Aber die Entscheidung liegt bei dir. Du musst beten. Jesus wird selbst zu dir sprechen.«
»Wissen Pomponia und Felicius davon?«
Er schüttelte den Kopf. »Das wissen nur du und ich und der Herrgott.«
Plötzlich merkte Eigon, dass sie ein Bündel
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