Die Tochter des Königs
ließ er sich erstaunlich leicht umsetzen. Kim und William kehrten zum
Palazzo zurück, den William etwas später durch einen wenig benutzten Dienstboteneingang an der dem Garten gegenüberliegenden Seite verließ. Er würde sich für ein paar Tage in einem billigen Hotel einquartieren, allein ein paar Sehenswürdigkeiten besichtigen und stets sein Handy griffbereit halten für den Fall, dass Jess ihn brauchte. Zu mehr Konzessionen war sie nicht bereit gewesen.
Rhodri und Steph brachen in den frühen Morgenstunden auf. In aller auffälligen Heimlichkeit stiegen sie in den gemieteten Mercedes, fuhren langsam und umsichtig aus Rom hinaus und widerstanden dem Drang, sich laufend umzudrehen und einen Blick hinter sich zu werfen.
Am selben Morgen verließ Jess Carmellas Wohnung, gekleidet in ein Paar Versace-Jeans und eine Bluse von Prada, die beide ebenso Carmella gehörten wie die überdimensionale Sonnenbrille und das grellrote Hermès-Tuch, das ihre Haare bedeckte. Der Ledersack, den sie über die Schulter geschlungen hatte, stammte aus Carmellas Besitz wie auch der auffällige Lippenstift. Die Verkleidung würde zwar niemanden täuschen, der Jess aus der Nähe sah, doch ein Mensch, der an der übernächsten Straßenecke lauerte, würde sich vielleicht eine Weile hinters Licht führen lassen. Die beiden Frauen waren ähnlich groß und hatten eine ähnliche Figur, und Jess bemühte sich, Carmellas wiegenden Gang und elegante Haltung nachzuahmen. Für ihre Maskerade hatte sie sich sogar ein Paar Gucci-Sandalen ausgeliehen. Es fiel ihr schwer, keine Miene zu verziehen, und ein paar Minuten vergaß sie beinahe ihre Angst und ihren Ärger und freute sich an dem Streich, während sie auf die Via Condotti und die Freiheit zuschlenderte.
Auf der Damentoilette eines erschreckend vornehmen Warenhauses gab sie sich geschlagen und tauschte die hochhackigen Sandalen gegen ein Paar ihrer eigenen Schuhe,
das sie aus dem Lederrucksack holte. Sie verließ das Geschäft durch einen anderen Eingang als den, durch den sie es betreten hatte, und steuerte jetzt, da sie richtig ausschreiten konnte, mit schnellen Schritten auf ihre neue Zuflucht zu, eine Pension, die einer Bekannten von Carmella gehörte. Sinnigerweise lag sie ganz in der Nähe von Kims Wohnung, auf der anderen Seite des Campo de’ Fiori in einer verwinkelten Gasse, in der lauter mittelalterliche Gebäude standen.
Auch alles an dem Haus, in dem sich die Pension befand, war sehr alt. Es war an die verbliebene Mauer einer Kirche gebaut, die schon vor langer Zeit abgerissen worden war, überall standen Antiquitäten und Kuriositäten, schwere, mit Quasten besetzte Vorhänge wetteiferten mit Bildern und Zierrat um Platz an den Wänden, und die dunklen Eichenstufen ächzten, als Jess ihrer Pensionswirtin, die Margaretta hieß, ins oberste Stockwerk folgte.
Entzückt sah sie sich in ihrer neuen Bleibe um. Es war ein kleines Zimmer, dessen eine Wand aus der unverputzten Mauer der alten Kirche bestand, die Möbel bestachen durch ihre Stilvielfalt. Als Jess schließlich allein zurückblieb, ließ sie ihren Rucksack auf den Boden fallen und setzte sich mit einem behaglichen Seufzen aufs Bett.
Vergiss nicht, dich die ganze Zeit zu schützen. Lass Titus nicht in deinen Kopf, sonst bist zu verloren. Einen Moment klangen ihr die Worte, die Carmella ihr zum Abschied noch einmal eingeschärft hatte, in den Ohren. Mach dein neues Hotelzimmer zu einer Zuflucht, zu einer Basis, von der aus du deine Nachforschungen anstellen kannst. Werde nicht zu seinem Sklaven, und auch nicht zum Sklaven Eigons, sonst verlierst du deine Seele!
Jess biss sich auf die Unterlippe. Jetzt, da sie hier war, außerhalb Daniels Reichweite und ganz allein - wenn ihr Plan
denn aufgegangen war -, hatte sie eigentlich nur noch Lust, sich aufs Bett zu legen und die Augen zu schließen. Ihr Blick fiel auf ihren Rucksack, in dem ihr Handy lag. Sie könnte jemanden anrufen. Sie könnte sich bei Steph melden und fragen, wo sie mittlerweile waren und ob Daniel ihnen folgte. Sie verzog das Gesicht. Eigentlich sollte sie William anrufen und ihm sagen, dass sie gut in der Pension eingetroffen und, soweit sie es sehen konnte, niemand ihr gefolgt war. Er würde sich Sorgen machen. Sie lächelte bekümmert. Er tat wirklich so viel für sie. Sie stand auf und ging zum Fenster. Die Gasse war so schmal, dass sie die Straße selbst gar nicht sehen konnte. Im Haus gegenüber erschien eine Frau am Fenster, schüttelte kurz ein
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