Die Tochter des Königs
»Sind Meg und Ken nicht da?« Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, vorher anzurufen. Das tat Steph nie.
Er schüttelte den Kopf. »Sie sind im Urlaub.« Seine Stimme war tief und melodiös, aber nicht besonders freundlich. Jessʹ Enttäuschung stand ihr wohl ins Gesicht geschrieben, denn er hob fragend die Augenbrauen. »Sie wissen sicher, dass ich ihr Sohn bin, Rhodri. Kann ich Ihnen helfen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich wollte nur kurz Guten Tag sagen.« Sie lächelte zaghaft.
Er warf einen Blick über ihre Schulter zur Einfahrt. »Sie kommen wohl gerade zufällig vorbei?«
Da sie offensichtlich nicht mit dem Auto gekommen war, und da der Weg von der Farm nicht weiterführte, erschien
ihr diese Vermutung ausgesprochen merkwürdig. Sie streckte die Hand aus. »Ich bin Jess Kendal.« Er ignorierte ihre Hand, und verlegen ließ sie sie sinken. Sie hatte gar nicht gewusst, dass die Prices einen Sohn hatten, Meg und Steph hatten ihn, soweit sie sich erinnern konnte, nie erwähnt. »Meine Schwester ist eine Nachbarin Ihrer Eltern«, fuhr sie tapfer fort. »Da drüben. In Ty Bran.« Sie deutete vage zum Grat oberhalb der Weide, über die sie gekommen war, und wartete auf ein Zeichen des Erkennens in seinem Gesicht. Die Entfernung wirkte im warmen Sonnenschein gar nicht so groß. »Ich wohne dort, solange Steph im Urlaub ist. Ich wollte einfach mal vorbeischauen und Meg Guten Tag sagen, mehr nicht. Ich wollte Sie nicht stören.«
»Sie haben nicht gestört. Zumindest bis jetzt nicht.«
Sie lächelte beklommen. Das war kein Mann, dem sie ihre Angst vor Gespenstern anvertrauen würde, von anderen Ängsten ganz zu schweigen. Und er war eindeutig nicht bereit, ihr die erhoffte Tasse Tee anzubieten. Nicht einmal ein freundliches Lächeln. »Dann mache ich mich wohl wieder auf den Weg.« Sie zögerte, wusste nicht genau, wie sie das Gespräch beenden sollte. Die Sorge hätte sie sich sparen können, er schloss die Tür bereits wieder. »Ekelhafter Rüpel!«, sagte sie zu den Hunden, die sich ihr, kaum war die Haustür geschlossen, mit wedelndem Schwanz wieder näherten. »Ich hoffe, er füttert euch wenigstens anständig.«
Der Rückweg erschien ihr endlos weit und sehr anstrengend, zumal er weitaus mehr bergauf führte als der Hinweg. Als sie endlich wieder in Ty Bran ankam, war sie völlig kaputt und sehr durstig. Gerade schenkte sie sich aus dem Kühlschrank ein Glas Saft ein, als ein großer schwarzer Wagen mit Allradantrieb zum Tor hereinfuhr. Er parkte neben ihrem Ford Ka, die Fahrertür wurde geöffnet, und
Rhodri Price stieg aus. Dann stand er da und schaute sich im Hof um.
»Mist!« Sie hatte nicht erwartet, diesen Mann so bald wiederzusehen.
Als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, kam er mit einem dümmlichen Grinsen zur Haustür. »Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«
Jess blieb in der Tür stehen, das Glas Orangensaft noch in der Hand. »Wieso?«
»Ich war unhöflich.«
»Ach ja? Ich dachte, das sei Ihr üblicher Umgangston.« Trotz regte sich in ihr.
Er zuckte mit den Schultern. »Gut gekontert. Um ehrlich zu sein, haben Sie vermutlich gar nicht mal so Unrecht. Ich bin nicht gerade erbaut, von Fans belagert zu werden, wenn ich mir eine Auszeit nehme, und für einen von der Sorte habe ich Sie gehalten. Meine Mutter hat mir die Leviten gelesen. Sie rief an, bald nachdem Sie gegangen waren, und hat mir von Ihnen erzählt. Entschuldigen Sie.« Sein zerknirschter Gesichtsausdruck passte überhaupt nicht zu seinen breiten Schultern und seinem selbstbewussten Auftreten.
»Mir ist schleierhaft, weshalb Sie unhöflich zu Ihren Fans sein sollten, wenn die sich die Mühe machen, Sie in der Wildnis aufzuspüren«, antwortete Jess. »Wer sollen diese Fans denn sein? Sind Sie vielleicht ein Popstar?«
Es bereitete ihr ein erstaunlich gutes Gefühl, zu sehen, dass er sie gekränkt anstarrte. »Sie wissen nicht, wer ich bin?«
»Nein.« Sie hielt seinem Blick stand. »Sollte ich?« Sie hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen diesen Mann mit seiner selbstgefälligen Arroganz gefasst, außerdem fühlte sie sich von ihm regelrecht eingeschüchtert, wie sie entsetzt
feststellte. Beide Gefühle waren ihr sonst eher fremd. Meist unterstellte sie Menschen, die sie gerade kennenlernte, dass sie nett und liebenswert waren, bis sie ihr einen triftigen Grund gaben, ihre Meinung zu ändern. Aber genau das hatte er ja getan, oder nicht? Schließlich hatte sie seinetwegen den ganzen
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