Die Tochter des Königs
es versucht, was vermutlich ihren Erfolg als Lehrerin erklärte. Ruhige Beharrlichkeit war der einzig gangbare Weg. »Steph, hör mal, ich muss dich was fragen. Geht hier bei dir etwas um?«
Einen Moment herrschte am anderen Ende Stille. Damit war es ihr gelungen, die Aufmerksamkeit ihrer Schwester zu erregen. »Wieso?« Stephs zurückhaltende Antwort in Rom wurde vom Hupkonzert auf der Straße vor der Wohnung fast übertönt.
Jess hörte den Lärm und lächelte sehnsüchtig. »Nur so.«
»Ich …« Steph zögerte. »Um ehrlich zu sein, habe ich mich ein- oder zweimal etwas seltsam gefühlt, als wäre etwas da. Nur Geräusche. Das Gefühl, dass ich beobachtet werde. Gesehen habe ich aber nichts.«
Jess verzog das Gesicht. »Nein, natürlich nicht. Nur Geräusche, wie du schon sagst. Wahrscheinlich höre ich das auch nur, weil ich nach London noch nicht an die Stille auf dem Land gewöhnt bin.«
Steph lachte auf. »Meine Liebe, wenn du London für laut hältst, dann müsstest du mal nach Rom kommen. Hör zu!«
Jess vermutete, dass ihre Schwester das Telefon zum offenen Fenster hinausstreckte. Ein gedämpftes, undefinierbares Tosen, das rhythmisch vom Heulen eines Diebstahlalarms unterbrochen wurde, bestätigte ihre Vermutung.
»Hör, Jess, Kim ist gerade mit den panini und den giornali zurückgekommen. Ich mache mal Schluss.« Jetzt war wieder Steph am anderen Ende der Leitung zu hören. »In ein paar Tagen melde ich mich wieder, okay?«
»Steph, warte!«
Aber zu spät, Steph hatte schon aufgelegt. »Gib mir deine Nummer, für den Fall, dass ich dich anrufen will …« Jess sprach die Bitte leise aus, obwohl sie das Telefon bereits auf die Ladestation zurücklegte. So erging es ihr mit Steph immer. Ihre Schwester redete so schnell und so eindringlich, dass Jess entweder vergaß, was sie sagen wollte, oder es gar nicht mehr versuchte. Sie grinste gequält. Wenigstens unterhielten sie sich noch, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Geschwistern, die sie kannte. Außerdem hatte sie ja Stephs Handynummer.
Kapitel 4
D ie Prices waren Stephs nächste Nachbarn. Jess erinnerte sich von früheren Besuchen an sie, an ihre Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft, und allein bei der Vorstellung, sie zu besuchen, wurde sie gleich besserer Dinge. Sie sah sich in der Küche um. Das Haus verströmte jetzt eine warme, freundliche Atmosphäre und hatte gar nichts Gespenstisches mehr an sich.
Das Gespenstische, so redete sie sich ein, hatte nur etwas mit ihrem Traum zu tun, und der Traum hing mit dem zusammen, was ihr passiert war. Sie würde die Vergewaltigung nicht einfach beiseiteschieben und so tun können, als sei alles normal. Das war doch nur verständlich. Das Erlebnis hatte sie so tief verletzt, dass sie vermutlich nie ganz darüber hinwegkommen würde. Aber sie war in die Ruhe und Stille dieser wunderschönen Landschaft gefahren, um genau das tun, und sie war eine starke Frau. Sie würde nicht mehr daran denken. Daniels Worte. Sie würde nicht mehr daran denken, sondern lieber an die Zukunft.
Zu Fuß war es ziemlich weit, den Pfad hinab und über die Felder hinauf nach Cwm-nant, der Farm der Prices im benachbarten Tal, aber die Bewegung tat Jess gut. Sie kannte den Weg von Spaziergängen mit ihrer Schwester. In Stephs erster Zeit in Ty Bran hatten Meg und Ken Price trotz der vielen Arbeit auf ihrer Schaffarm immer irgendwie Zeit gefunden,
ihr zu helfen, und jetzt war sie ein gern gesehener Gast, fast schon Teil der Familie. Jess war sich ziemlich sicher, dass sie in der Küche mit einer Tasse Tee und dem neuesten Klatsch empfangen werden würde. Wanderungen über Stock und Stein waren allerdings nichts, was sie jeden Tag machte, und so war sie ziemlich erschöpft, als sie über den letzten Zaun stieg und auf den Pfad gelangte, der zum Farmhaus führte. Ihr fiel auf, dass die Weiden leer waren; vermutlich hatten sie die Schafe für den Sommer in die Berge getrieben. Sie betrat den Hof und wurde schwanzwedelnd von den beiden Collies begrüßt.
Die hintere Tür des Farmhauses ging auf, und ein großer Mann erschien. Er musste Anfang vierzig sein, hatte breite Schultern, dunkles Haar, einen sorgfältig gestutzten Bart und hellblaue Augen. Er trug Jeans und ein Hemd, dessen Kragen offen stand, seine Statur füllte die ganze Tür aus. Auf ein Fingerschnalzen von ihm hin schlichen die Collies, die Jess umwuselten, über den Hof zur Hundehütte davon.
Beim Anblick des ihr unbekannten Mannes wurde Jess unbehaglich zumute.
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