Die Tochter des Königs
Himmel ein strahlendes Blau, hier und dort durchsetzt von weißen Wattebauschwolken, die rasch über das breite Flusstal auf die englische Grenze zutrieben. Über ihr erklang ein tiefes, heiseres Krächzen. Ein Rabe flog mit bedächtigen Flügelschlägen auf den Wald zu. Noch während sie ihn beobachtete, hörte sie den Schrei eines Bussards hoch oben am Himmel. Plötzlich ließ der Raubvogel sich wie ein Stein auf den Raben fallen, der ihm in letzter Sekunde auswich, ein oder zwei Minuten verfolgten die beiden
Vögel sich wütend, ehe sich der Bussard wieder in die Höhe schraubte und der Rabe im sicheren Blätterdach verschwand.
Steph drehte sich um und betrachtete das Haus. Es lag schläfrig im Sonnenschein da, Rosen rankten sich um die Tür, in einem Zimmer waren die Vorhänge halb zugezogen und bildeten einen blauen Farbklecks im grauen Stein. Es war ein glückliches Haus.
Aber in diesem Tal gab es Unglück.
Und jetzt diese Puppe.
Langsam ging Steph ins Haus zurück. Sie griff zum Hörer und wollte gerade Megan anrufen, als sie innehielt. Wenn sie das tat, würde Rhodri kommen. Er würde davon ausgehen, dass sie Hilfe brauchte. Seine überbordende, selbstgefällige Hilfe. Guter Gott, so bald wollte sie ihn wirklich nicht wiedersehen. Kurz entschlossen wählte sie eine Nummer in Frankreich.
»Mummy? Bist du da? Bitte nimm ab.«
Sie hörte ein schabendes Geräusch, dann eine atemlose Stimme. »Steph? Einen Moment, Liebes. Lass mich das Ding noch wegräumen.« Ein weiteres Krachen, dann schließlich hörte sie ihre Mutter richtig in den Hörer sprechen. Jetzt lächelte Steph. Sie stellte sich ihre Mutter vor, ihre Hippie-Klamotten, ihre wilden grauen Haare, ihre rauen Hände von der vielen Gartenarbeit, wenn sie zu Hause in ihrem Häuschen in den atlantischen Pyrenäen war, die Haut gegerbt von der Sonne tausend tropischer Länder, in denen sie gewandert war und geschrieben und sich mit Einheimischen ausgetauscht hatte, ihre Augen ein durchdringendes Stahlblau.
»Entschuldige, ich hab gerade einen Korb Gemüse reingebracht.« Aurelia war immer noch außer Atem. »Wie geht’s? Ich habe von euch beiden seit Ewigkeiten nichts gehört.«
Steph biss sich auf die Unterlippe. »Mummy, es sind ziemlich schreckliche Sachen passiert.« Eigentlich hatte sie nicht gleich damit herausplatzen wollen, aber die Stimme ihrer Mutter hatte unvermittelt kindliche Hoffnungen in ihr geweckt. Plötzlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihre Mutter zu sehen, ihr ansteckendes Lachen zu hören, den wunderbaren Duft des Shampoos zu riechen, das sie aus Rosmarin und Lavendel selbst zubereitete, und die seltsamen Blumendüfte, die sie auf ihren Reisen kaufte.
In ihrer unordentlichen, warmen, chaotischen Küche in Frankreich setzte sich Aurelia mit besorgtem Gesicht auf einen Stuhl. »Na, erzähl mal, Liebes«, sagte sie.
Steph redete sehr lange. Zwischendrin wurde ihr klar, dass sie den Hörer so fest umklammert hielt, dass ihre Finger taub wurden. Als sie ans Ende ihrer Erzählung anlangte, nahm sie ihn schließlich in die andere Hand.
»Und wo ist Jess jetzt?«, fragte Aurelia nach einer Weile.
»Immer noch in Rom. William will mit ihr nach Cornwall fahren, um sie bei seinen Eltern in Sicherheit zu bringen.«
»Bist du ganz allein in Ty Bran?«
Steph nickte, sie war den Tränen nahe.
»Und was hast du mit dieser Puppe gemacht?«
»Sie liegt noch oben auf dem Boden.«
»Ich glaube, du solltest sie nach draußen bringen, Liebes. Fass sie nicht wieder an. Nimm eine Zange oder etwas in der Art und trag sie vorsichtig nach draußen, geh nicht grob mit ihr um. Bring sie irgendwo in Sicherheit. Sie könnte für das Kind, das sie dorthin gelegt hat, sehr kostbar sein.«
»Das Kind, das sie dorthin gelegt hat, ist seit zweitausend Jahren tot!«
»Ich weiß. Aber das spielt keine Rolle.« Aurelia seufzte. »Soll ich kommen?«
Steph nickte lautlos. Dann riss sie sich zusammen. »Nein, das ist nicht nötig. Sag mir einfach, ich soll mich nicht so haben.« Mühsam brachte sie ein Lachen zustande.
»Eigentlich wollte ich dich nächsten Monat sowieso besuchen«, sagte Aurelia, ohne auf Stephs Einwand einzugehen. »Ich will mich mit meinem Verleger wegen meines nächsten Buches treffen. Ich kann die Reise ja einfach vorverlegen. Ich könnte morgen bei dir sein. Und jetzt, was machst du heute Abend? Deinen Bemerkungen entnehme ich, dass du lieber nicht zu den Prices gehen möchtest, obwohl Megan sich über deinen Besuch
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