Die Tochter des Königs
notierte das Kennzeichen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, flüsterte Jess fast lautlos. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
»Haben Sie was gesagt?« Die Frau stand wieder am Fenster. Aggressiv steckte sie den Strafzettel in eine Plastikhülle und klemmte ihn hinter Jess’ Scheibenwischer.
Jess schüttelte den Kopf. »Kein Wort«, sagte sie. Demütig wartete sie, bis die Frau gegangen war, dann öffnete sie die Fahrertür, nahm den Strafzettel und ließ den Motor an. Sie hatte vorgehabt, noch einmal bei William zu läuten, aber das ging jetzt nicht. Wenn sie den Wagen auch nur fünf Minuten allein hier stehen ließ, würde die Politesse zurückkommen. Nein, es war Zeit, London zu verlassen und wieder nach Wales zu fahren.
Zweimal machte sie halt, einmal, um bei der Raststätte Reading an der M4 mit einer Tasse schwarzen Kaffees und einem getoasteten Rosinenbrötchen zu frühstücken, und dann wieder in Abergavenny, wo sie zum Mittagessen ein Café fand. Bevor sie es betrat, fischte sie ihr Handy und ihre Kreditkarte aus der Tasche und bezahlte den Strafzettel. Sie wollte London und die Politesse hinter sich lassen und Daniel auch. Selbst wenn er wieder nach Ty Bran kommen sollte, hier, in diesem Moment, war sie vor ihm in Sicherheit. Er hatte keine Ahnung, wo sie war.
Erst am späten Nachmittag fuhr sie schließlich durchs Tor und stellte ihren Wagen neben Stephs uralten Allrad.
Mehrere Sekunden blieb sie sitzen, hörte das tickende Geräusch, das der Motor beim Abkühlen von sich gab, und sah zum Haus, das im Sonnenlicht vor sich hin döste. Die Haustür war offen, im Fliederstrauch vor dem Atelier sang ein Rotkehlchen sein zartes Lied, inmitten der hohen Gräser neben der Haustür blühte Mädesüß.
Schließlich öffnete sie die Tür und stieg mit steifen Beinen aus. »Steph? Bist du da?«
Als sie keine Antwort bekam, schaute sie in die Küche. Auf dem Tisch standen die Überreste einer Mahlzeit, die eindeutig zwei Menschen gegessen hatten. Jess bemerkte die halbleere Salatschüssel, die angebissenen Brötchen, die halbleeren Weingläser, und runzelte die Stirn. Es sah aus, als seien Steph und ihr Gast mitten im Essen aufgestanden und fortgegangen. »Steph? Wo bist du?«
Sie ging weiter ins Esszimmer. Die Terrassentür stand offen, ihr fiel auf, dass die Glasscheibe ersetzt war. Dann trat sie auf den Rasen hinaus. Das Gras war viel zu hoch, der Garten war überwuchert. Noch immer sah sie kein Lebenszeichen von ihrer Schwester. »Steph?« Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Dann lief sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Stephs Zimmer war ein einziges Chaos, aber das übliche Chaos, und ihr Bett war so gut gemacht, wie sie es zu machen verstand. Jess schaute in das Zimmer, in dem sie gewohnt hatte. Dort sah alles genau so aus, wie sie es zurückgelassen hatte, nur ihr Gepäck stand neben der Tür. Aber das dritte Schlafzimmer war jetzt bewohnt. Sie erkannte die Kleider, den Koffer, den Kosmetikbeutel. Ihre Mutter war gekommen. Jess ging zur Kommode und betrachtete die aufgereihten Kämme und Bürsten, die Öle für Aromatherapie, die Naturkosmetik, und lächelte. Wenn Aurelia hier war, würde alles gut werden.
Sie lief wieder nach unten, ging zu ihrem Wagen und begann, ihre Sachen auszupacken und in ihr Zimmer zu tragen. Als sie damit fertig war, warf sie einen Blick auf die Uhr. Die beiden waren schon sehr lange fort. Außerdem kam es ihr merkwürdig vor, dass sie das Haus so überstürzt verlassen hatten. Sie weigerte sich, an Daniel zu denken, ging zum Telefon und wählte die Nummer von Cwm-nant. Megan hob ab.
»Hallo, Megan, sind zufällig Steph und meine Mutter bei dir?« Sie sah zum Fenster hinaus.
»Jess? Bist du das?« Megan klang begeistert, ihre Stimme zu hören. »Nein. Sie sind nicht hier. Ist Aurelia zu Besuch? Wie wunderbar. Ich freue mich immer sehr, wenn sie hier ist. Aber nein, ich habe von Steph nichts gehört, seit sie und Rhodri zurückgekommen sind. Warte mal einen Moment, Rhodri ist gerade hier.« Jess hörte Stimmen, dann war Rhodri am Apparat. »Jess? Wie geht’s? Seit wann bist du hier?« Seine Stimme klang sehr herzlich. »Ist alles in Ordnung? Ist William bei dir?«
»Hi, Rhodri. Nein, er ist in London geblieben.« Sie merkte, dass sie lächelte, während sie den Grund für ihren Anruf erläuterte. Es tat ihr sehr gut, seine Stimme wieder zu hören.
»Nein, Jess, kein Lebenszeichen von den beiden. Ehrlich gesagt habe ich von Steph überhaupt
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