Die Tochter des Königs
das Sternenlicht langsam vom aufkommenden Dunst verhüllt. In der Dunkelheit fielen die ersten Regentropfen.
Sie zuckte zusammen, und da erst merkte sie, dass sie im Stehen eingeschlafen war. Im Haus war es nach wie vor still. Das Trommeln der Regentropfen auf dem Dach des Ateliers vor ihrem Fenster bildete eine beruhigende Geräuschkulisse. Stöhnend ging Jess zum Bett und ließ sich darauffallen. Wenige Augenblicke später war sie wieder eingeschlafen.
Im Wald war es dunkel, der Wind rauschte und ächzte. Regen prasselte auf das Laub, in der Nähe stieß ein Fuchs ein spitzes, wütendes Bellen aus. Gwladys schmiegte sich zitternd an ihren kleinen Bruder.
»Togo?«
Er gab keine Antwort.
»Togo? Ich habe Angst.«
Sie konnte nichts sehen, der Boden war kalt und hart, und die Baumwurzeln bohrten sich in ihre Haut. »Das ist ein dummes Spiel. Ich will zu Mama.« Sie wiegte sich vor und zurück und summte leise in sich hinein. »Wo ist Eigon? Warum kommt sie nicht? Sie soll uns was vorsingen.« Gwladys war den Tränen nahe. »Ich habe Hunger. Du auch, Togo?«
Er gab noch immer keine Antwort, also streckte sie die Hand nach ihm aus. Er fühlte sich warm und fest an. Er schlief, war in seiner kleinen Traumwelt verloren. Unvermittelt krabbelte sie von ihm fort und stand auf. Ohne den
Schutz des Grabens und der Bäume war der Wind stürmisch, und die Geräusche, die er machte, waren furchterregend. Niemand würde sie hören, wenn sie rief. Unschlüssig drehte sie sich im Kreis. In welche Richtung sollte sie gehen? Wo waren die anderen?
»Eigon? Mir gefällt dieses Spiel nicht. Können wir jetzt damit aufhören?« Kurz entschlossen ging sie den Weg entlang, den Wind im Rücken. Ihr blondes Haar wehte ihr ums Gesicht, sie hatte die Augen auf die Büsche vor sich gerichtet. »Eigon? Mama? Wo seid ihr?« Wenige Sekunden später wusste sie nicht mehr, wo sie war.
Plötzlich wachte Togo auf. Um ihn her war es dunkel. Er streckte die Hand nach seiner Schwester aus, doch sie war nicht da. Er war allein. Vor Angst begann er zu weinen.
Jess erwachte zum Prasseln des Regens. Sie sprang unter die Dusche, zog sich Jeans und Pullover über und lief nach unten, wo sie als Erstes Daniels Reisetasche neben der Haustür stehen sah. Sie warf einen Blick in die Küche. Der Tisch war für zwei gedeckt, in der Mitte stand schon die dampfende Kaffeekanne, aber von ihm war nichts zu sehen.
»Daniel?«
»Ich bin hier.« Seine Stimme kam vom Esszimmer. »Jess, komm und schau dir das mal an.«
Widerwillig stellte sie sich in die Tür. Er starrte gebannt auf den Tisch. »Es ist weg«, sagte er leise. »Es ist alles weg.«
»Was alles?« Sie ging zu ihm.
»Das Durcheinander. Das Gekritzel. Das Blut. Schau.«
Er trat einen Schritt vom Tisch fort und deutete auf den Skizzenblock. Sein Gesicht war leichenblass.
Sie schaute darauf, und ihr stockte der Atem. Daniel hatte Recht: Der Skizzenblock war sauber und unbeschädigt. Sie wagte kaum, ihn in die Hand zu nehmen und die Seiten
umzublättern. Ihre Zeichnungen und Aquarelle waren völlig unversehrt.
»Das verstehe ich nicht.« Sie blätterte den ganzen Block durch. »Wie kann das passieren?«
»Keine Ahnung.«
Sie schaute sich im Esszimmer um. Nichts war berührt worden. Es war so sauber und ordentlich wie vor Rhodris Ankunft.
»Wir haben das doch nicht geträumt, oder?« Jetzt schließlich sah sie zu ihm.
Daniel zuckte mit den Achseln. »Wir alle drei?« Er schauderte. »Gehen wir doch in die Küche. Ich habe schon Kaffee gemacht.«
Sie folgte ihm. »Wir können uns das unmöglich alle eingebildet haben, Daniel.«
»Nein?« Er griff nach der Kaffeekanne. »Schau mal in den Mülleimer.«
Sie äugte kurz hinein. »Was soll ich da sehen?«
»Nichts. Das ist ja der Punkt. Wo sind die Glasscherben?«
»O Daniel!« Sie ließ den Mülleimerdeckel wieder fallen und setzte sich an den Tisch, schob die Ärmel bis zum Ellbogen hoch und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Auf der Abtropffläche bemerkte sie zwei intakte Weinflaschen.
Er setzte ihr einen Becher Kaffee vor. »Es hat den Anschein, als seien wir alle einer Halluzination erlegen«, sagte er nachdenklich. »Ich verstehe zwar nicht, wie oder warum, aber eine andere Erklärung gibt es nicht. Wenn wir alle dasselbe gegessen hätten, würde ich ja sagen, dass es Magic Mushrooms oder so was waren, aber Rhodri hat nicht mit uns gegessen.«
»Und was ist mit deiner Hand? Dem Schnitt? Ist der noch da?« Sie fasste an sein
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