Die Tochter des Königs
rechtes Handgelenk.
Er streckte die Hand aus und drehte die Innenfläche nach oben. Da war nichts.
»O mein Gott!« Unwillkürlich schauderte Jess. »Was in aller Welt ist mit uns passiert?«
»Ich fürchte, ich kann leider nicht länger bleiben, um das herauszufinden.« Er schaute zu ihr. »Ich muss gleich los. Ich habe eine lange Fahrt vor mir. Soll ich deinen Freund Rhodri anrufen und ihn bitten herzukommen? Du solltest dich nicht allein um das Problem kümmern müssen, aber ich wüsste nicht, wie ich dir helfen kann. Was immer es war, es ist vorbei.« Er lachte gekünstelt. »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, amüsieren wir uns köstlich darüber!« Er leerte seinen Becher und stand auf.
Jess hatte die ganze Zeit auf seine Hand gestarrt. Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Mach dir keine Sorgen um mich, Daniel. Ich rufe Rhodri später an und erzähle ihm, was passiert ist.«
Sie brachte ihn zum Wagen und sah ihm zu, wie er seine Tasche und die Bücher verstaute. Wenige Minuten später winkte sie ihm nach, während er holpernd den Feldweg hinunter verschwand. Seltsamerweise empfand sie nichts als Erleichterung, dass er fort war. War er mitten in der Nacht aufgestanden und hatte versucht, in ihr Zimmer zu kommen? Vermutlich nicht. Dann runzelte sie die Stirn. Er hatte nicht versucht, ihr einen Abschiedskuss zu geben.
Langsam ging sie in die Küche und direkt zur Spüle. Ohne zu wissen, warum, drehte sie das Wasser auf und wusch sich Gesicht und Hände, dann griff sie nach dem Handtuch.
Sind die scheußlichen Männer jetzt weg?
Die Stimme war direkt hinter ihr. Mit einem ängstlichen Aufschrei wirbelte sie herum.
Können wir jetzt aufhören mit dem dummen Spiel?
»Guter Gott!« Sie holte tief Luft. »Wo bist du?«
Sie bekam keine Antwort.
»Eigon? Glads? Hat eine von euch das gemacht?« Plötzlich war sie zornig. »Habt ihr auf meinen Zeichnungen herumgekritzelt?« Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Habt ihr die Gläser und Flaschen zerbrochen?«
Draußen begann die Amsel vom Dach des Ateliers zu singen. Der Regen hatte aufgehört, ein einzelner Sonnenstrahl spiegelte sich in den nassen Pflastersteinen. »Habt ihr mich gehört?«, rief Jess. Plötzlich war sie ganz die strenge Lehrerin. »Ich möchte euch sehen, und zwar auf der Stelle!« Sie hielt die Luft an und schaute sich um. Nichts. »Mir ist es ernst damit!«
War das ein leises Kichern? Sie lief zum Fenster und schaute prüfend in den Hof. Das Haus war voller Geräusche. Dachbalken ächzten, Blätter raschelten, Regen tropfte in der Rinne herab, Vögel zwitscherten, Schafe blökten vom Berg jenseits des Feldwegs. »Eigon, komm her. Ich will mit dir reden.«
Aber es kam keine Antwort, womit sie eigentlich auch gerechnet hatte. Kopfschüttelnd ging sie ins Esszimmer zurück und schaute auf den Tisch mit der bangen Befürchtung, der Skizzenblock könnte wieder beschädigt sein. Doch das war er nicht. Unberührt lag er da.
»Mist!« Sie griff zum Telefon und überwand ihre Scheu, Rhodri noch einmal zu belästigen. Nach etwa zwanzigmal Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Rhodri? Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, aber könnten Sie bitte sobald wie möglich herkommen? Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Sie zögerte kurz. »Daniel ist weg. Ich bin ganz allein.«
Am Ende des Feldwegs fuhr Daniel in eine Feldeinfahrt, stellte den Motor ab und ließ die Stirn auf das Lenkrad
sinken. Er schwitzte heftig, eine Woge der Übelkeit übermannte ihn. Blind tastete er nach dem Türgriff und taumelte in das hohe, mit Lichtnelken durchsetzte Gras, das die Einfahrt säumte, und lehnte sich an das Gatter. Sobald er sich etwas besser fühlte, drehte er sich um und betrachtete den Wagen.
Er war leer. Aber jemand war dort gewesen, hatte hinter ihm gesessen. Unmittelbar nachdem er hinter Ty Bran auf den Feldweg eingebogen war, hatte er eine Präsenz gespürt, eine massive, bedrohliche Präsenz. Einen Mann. Einen wütenden, hasserfüllten Mann.
Er war auf die Bremse getreten und hatte in den Rückspiegel geschaut. Dann hatte er sich umgedreht und den Rücksitz untersucht. Nichts. Natürlich saß da niemand. Er war wieder angefahren, hatte auf der Schotterstraße rasch beschleunigt, war über Schlaglöcher und Furchen geholpert, war bei den Stellen, wo der Feldweg mit rotem Schlamm von der steilen Böschung verdreckt war, ins Schleudern geraten und hatte es immer mehr mit der Angst zu tun bekommen, bis er endlich die Feldeinfahrt
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