Die Tochter des Königs
problemlos weggeräumt werden. Kein richtiger Schnitt an der Hand, bloß Theaterblut.«
»Theaterblut?« Jess starrte ihn verständnislos an.
»Künstliches Blut, meine Gute!«
Ihr blieb der Mund offen stehen. »Nein. Das stimmt nicht«, sagte sie zornig. »Das sehen Sie völlig falsch!«
»Wirklich? Vielleicht.« Er lächelte. »Schieben Sie’s auf meinen Beruf. Ich habe einen Hang fürs Melodramatische. Aber ich verfüge auch über eine gute Menschenkenntnis. Dem Typen traue ich nicht über den Weg.«
»Ich kenne ihn schon sehr lange.« Sie straffte sich. »Sie haben nicht das Recht, so etwas zu sagen!«
»Okay, okay!« In gespielter Kapitulation hob er die Hände. »Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Wichtig ist doch nur, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Und wenn Sie seinen tröstenden Avancen nachgegeben haben, dann entschuldige ich mich.«
»Er hat mir keine Avancen gemacht!« Jess brach abrupt ab. Plötzlich dachte sie an Daniels zweideutiges »Gute Nacht«, an die Art, wie er auf sie zutrat und sie küssen wollte, an den Schnappriegel an ihrer Schlafzimmertür, das Knarzen oben im Flur. Sie schauderte. Nein. Das war Unsinn. Daniel war nicht an ihr interessiert. Hatte sich nie für sie interessiert.
Als sie Rhodris spöttischen Blick bemerkte, fuhr sie fort: »Was immer er gemacht haben mag, das mit dem Skizzenblock kann er nie im Leben vorgetäuscht haben. Der war
gestern Abend ruiniert, das haben Sie doch selbst gesehen. Es war mit Blut verschmiert. Es ist derselbe Block.«
Rhodri zuckte mit den Achseln. »Dann kann ich auch nicht erklären, wie er’s gemacht hat. Der Mann ist der reinste Zauberer!«
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. »Es gibt eine andere Möglichkeit«, sagte sie dann zögernd. »Wissen Sie, ob es hier im Haus spukt?«
Rhodri brach in schallendes Gelächter aus. »Ach, es ist also das Gespenst gewesen!«
»Vielleicht«, sagte sie, ohne zu lächeln.
Er wurde ebenfalls ernst und betrachtete sie aufmerksam. »Ihre Schwester hat den Verdacht, dass es hier spukt. Das hat sie jedenfalls meiner Mutter gesagt.«
»Was genau hat sie ihr erzählt?«
»Dass es ein Kind hier gibt. Ein ungezogenes Kind. Ein Mädchen, das im Atelier Sachen kaputtmacht.«
Jess bekam ein mulmiges Gefühl, aber sie erwiderte nichts.
Rhodri sah sie plötzlich amüsiert an. »Wenn das kein Grund für ein Glas Wein ist!«
Er verschwand in der Küche und kehrte wenig später mit zwei gefüllten Gläsern zurück, von denen er eines Jess reichte. »Hier spukt es überall. Ich bin mit den Legenden dieser Berge aufgewachsen. Dort unten im Tal«, er deutete zum Fenster hinaus, »hat vor langer Zeit eine Schlacht stattgefunden. So heißt es auf jeden Fall. Und auf dem Berg hinter uns stand in der Eisenzeit eine Festung. Hier gehen jede Menge Geister von gefallenen Kriegern und gepeinigten Göttern um. Derartige Geschichten werden über Jahrhunderte hinweg weitererzählt und dabei natürlich weitergesponnen, aber einen wahren Kern haben die meisten schon. Angeblich war irgendwo hier in der Gegend der Ort, wo
Caratacus zum letzten Widerstand gegen die Römer aufrief. Er war der Waliser Held, der die Stämme gegen die Römer in die Schlacht führte.«
»Und das Kind hier in Ty Bran ist seine Tochter«, sagte Jess mehr zu sich selbst als zu ihm.
Rhodri schaute sie zweifelnd an. »Das ist eine gewagte Schlussfolgerung! Andererseits, möglich ist es schon.« Er trank einen Schluck Wein. »Es wäre eher überraschend, wenn es hier keine Geister gäbe. In der Grenzregion von Wales wimmelt es von ihnen. Tausend Schlachten, zweitausend Jahre Konflikte, Mythen und Magie allenthalben. Es ist ein gesegnetes Fleckchen Erde.« Er grinste zufrieden.
Fast wider Willen lächelte Jess ebenfalls. Wenn Rhodri gerade einmal nicht in Angriffslaune war, sah er ausgesprochen nett aus. »Sofern man nicht zufällig direkt auf dem Vulkan wohnt!«
»Gut gesagt. Sie wissen ja, wie dieses Haus heißt - Ty Bran. Das bedeutet so viel wie Rabenhaus. Und das da unten ist das Tal der Raben. Geschichtlich kommt das ganz gut hin. Raben fliegen zu den Schlachtfeldern, um die Knochen der Toten abzupicken. Die Göttin der Schlacht ist eine Raben-Göttin.«
Jess schauderte. »Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass an einem solchen Ort Erinnerungen umgehen.«
Er zögerte. »Aber lassen Sie sich davon nicht so aus der Bahn werfen. Das ist alles längst Vergangenheit.«
»Wirklich?« Sie lächelte beklommen.
»Ja.« Er warf ihr einen
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