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Die Tochter des Königs

Titel: Die Tochter des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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sah hinauf. Alle lauschten. Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er dann nach oben und verschwand um den Treppenabsatz. Sie hörten, wie Türen geöffnet und geschlossen wurden, seine schweren Schritte auf den Dielen. »Hier oben ist niemand«, hörten sie ihn sagen, dann kam er auch schon wieder die Treppe herunter. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand dort oben war. Jess, Sie haben auf der Kommode ein paar Goldreifen liegen lassen. Die wären bestimmt nicht mehr da, wenn wirklich jemand dort oben gewesen wäre. Es muss wohl ein gestörter Jugendlicher gewesen sein, der ein bisschen Randale machen wollte. Das klingt zwar eher unwahrscheinlich, aber eine bessere Erklärung fällt mir nicht ein. Euch vielleicht?« Er zuckte mit den Schultern. »Manchmal sind hier in der Gegend Wanderer oder Mountainbiker unterwegs.«

    Jess betrachtete Rhodri nachdenklich. Irgendwie berührte es sie merkwürdig, dass er sich in ihrem Schlafzimmer umgesehen hatte. Sie schob den Gedanken fort. »Aber warum? Warum sollte jemand meine Zeichnungen ruinieren wollen?« Sie merkte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie ging ins Esszimmer zurück und schaute auf den Tisch. Draußen überzog das leuchtende Rot des Sonnenuntergangs den Himmel und füllte den Raum mit einem warmen Glühen. Nur der Strahl des elektrischen Lichts, der auf den Tisch fiel, war kalt. Vorsichtig steckte sie einen Finger in das Blut. Es war bereits getrocknet.
    »Ich muss jetzt wirklich gehen«, rief Rhodri vom Flur. »Tut mir sehr leid, was passiert ist. Wenn ich irgendetwas tun kann …«
    »Sie haben schon genug getan, indem Sie die Tür offen gelassen haben«, gab Daniel bissig zurück.
    »Daniel!« Jess war empört.
    »Er hat Recht. Es tut mir wirklich leid.« Rhodri ging zur Haustür. »Ich fahre jetzt, aber wenn Sie irgendetwas von der Farm brauchen - Sie wissen, wo Sie mich finden.«
    Als die Tür ins Schloss fiel, verzog Daniel das Gesicht. »Idiot.«
    »Es war nicht seine Schuld«, fuhr Jess auf.
    Daniel seufzte. »Das stimmt.« Er deutete auf das Skizzenbuch. »Was willst du damit machen? Soll ich’s wegwerfen?«
    »Nein!« Schützend legte sie die Hände darauf. »Nein, lass es einfach liegen.«
    »Lass mich wenigstens die Scherben wegräumen.« Er schaute kurz zu ihr. »Nein? Also gut, wie wär’s, wenn wir noch einen Schluck trinken und dann ins Bett gehen?«
    Jess erstarrte. Einen Moment war sie unfähig, sich zu bewegen, dann schaute sie auf. »Daniel …«

    Er schaute sie fragend an, und sie wandte beklommen den Blick ab. So hatte er es ja nicht gemeint, natürlich nicht. Sie lächelte verlegen. »Keinen Wein mehr für mich, danke. Ich glaube, ich gehe jetzt nach oben. Ich bin ziemlich müde …« Sie wich seinem Blick beharrlich aus, als er auf sie zutrat in der Absicht, ihr einen Gutenachtkuss zu geben, und ging um den Tisch herum zur Treppe. »Gute Nacht, Daniel. Machst du bitte überall das Licht aus?« Verwundert sah er ihr nach.
     
    Stunden später erwachte sie mit einem Ruck. Der Schnappriegel an der Tür hatte geklickt. Mit wild klopfendem Herzen starrte sie hinüber. Im Haus herrschte Totenstille.
    »Daniel?«, wisperte sie. Das Geräusch kam nicht wieder. Lautlos schlüpfte sie aus dem Bett, schlich auf Zehenspitzen zur Tür und drückte das Ohr an das Eichenholz. Dahinter war keine Bewegung wahrzunehmen. Sie tastete über den kleinen Messingriegel, der die Tür von innen verschloss. Ohne sich lange zu überlegen, weshalb Steph ihre Schlafzimmer mit Riegeln ausgestattet hatte, war es ihr fast peinlich gewesen, als sie ihn vorgeschoben hatte. Sie brauchte nicht lange nach dem Grund zu suchen, weshalb sie diese heftige Abneigung übermannt hatte beim Gedanken, jemand könnte ihr Schlafzimmer betreten, oder weshalb sie auch nur für den Bruchteil einer Sekunde gedacht hatte, Daniel könne sich plötzlich auf diese Art für sie interessieren. Immerhin war er verheiratet und seit Jahren platonisch mit ihr befreundet. Es hatte nie etwas zwischen ihnen gegeben. Es war ein Instinkt, der reine Selbsterhaltungstrieb. Eine automatische Reaktion auf ihre Angst und auf die Vergewaltigung.
    Als vom Treppenabsatz ein leises Knarzen zu hören war, verspannte sie sich, und fast unbewusst fuhr sie wieder über
den Riegel, als wollte sie sich vergewissern, dass er auch wirklich vorgeschoben war.
    Lange Zeit blieb sie so stehen, die Wange an das warme Holz der Tür gepresst, und lauschte der Stille, die sich über das Haus gelegt hatte. Am Himmel wurde

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