Die Tochter des Königs
strengen Blick zu. »Ja, das ist alles längst vorbei.« Er leerte sein Glas und stellte es ab. »Ich muss jetzt los. Ich erwarte meinen Agenten. Aber er wird nicht lange bleiben. Bei Einbruch der Dunkelheit zieht es ihn in die Großstadt zurück. Die Gespenster machen ihm zu schaffen. Rufen Sie mich an, wenn’s Ihnen zu viel wird,
und später fahren wir in den Pub, ich spendiere Ihnen zur Ablenkung ein Gläschen und was zu essen.« Er ging zur Tür. »Glauben Sie mir, allein sind Sie hier oben viel besser aufgehoben. Der Typ hat Ihnen nicht gutgetan.«
Sie wollte ihm widersprechen, aber er war schon fast beim Wagen angekommen.
»Ganz schön dreist!«, murmelte sie, als er ins Auto stieg. Aber irgendwie ging es ihr nach seinem Besuch besser.
Kapitel 6
A m Nachmittag folgte sie dem Weg in den Wald, watete durch glitzernde Wasserlachen, hörte das geschäftige Rascheln der Blätter im Wind, spürte die Sonne auf ihrem Gesicht. Der Weg wand sich bergauf durch Eschen und Eichen, stellenweise so nah am Waldrand, dass sie über das weite Flusstal nach Norden blicken konnte. Der Fluss war von hier aus zu erkennen, ein blau schimmerndes, von Weiden gesäumtes Band, das sich durch die Flussauen schlängelte. Aus der Ferne hörte sie Schafe blöken und das Miauen eines Bussards, der hoch über den Bergen seine Kreise zog. Es war wunderbar friedvoll hier und kaum vorzustellen, dass in der Nähe eine Schlacht stattgefunden haben sollte.
Als Jess schließlich die Gruppe uralter, mit Flechten überzogener Eichen und die ehrwürdige einsame Eibe knapp unterhalb des Gipfels erreichte, war sie außer Atem. Der Hang fiel steil nach Süden ab, fast wirkte er terrassiert, knorrige Wurzeln und Dornengestrüpp schmiegten sich an den Abhang, der sich bis zum Wildbach weit unter ihr erstreckte. Während Jess dort stand und wieder zu Atem kam, schnürte nur wenige Meter von ihr entfernt ein Fuchs über die Lichtung. Er konzentrierte sich derart auf seinen Weg, dass er Jess gar nicht bemerkte, und war gleich darauf im Unterholz verschwunden.
Sie setzte sich auf einen bemoosten Holzklotz, der am Fuß einer Eiche stand, lehnte sich an den Stamm und beschloss, in der Sonne ein paar Minuten zu rasten. Unvermittelt hörte sie in der Ferne einen Hund bellen.
Der Präfekt schickte zehn Männer zu der Stelle, wo er Cerys und Eigon gefunden hatte. Den ganzen Tag suchten sie die Wälder nach den beiden Kindern ab, doch ohne Erfolg. Dann durchkämmten sie die Gegend noch einmal mit Hunden, und schließlich führten sie Eigon, begleitet von ihrer Mutter, zu dem halb verfallenen Viehstall. Das Mädchen weinte, als Cerys mit ihr zwischen den Bäumen hindurchging, gefolgt von den Legionären. Die Männer waren bedrückt. Sie und ihre Hunde hatten jeden Fuchs-und jeden Dachsbau mit seinen meilenlangen Verbindungsgängen abgesucht, ebenso den nant , der über sein felsiges Bett plätscherte, alle Gräben und Senken unter den Wurzeln der Bäume. Es gab keinen Ort, an dem sie noch suchen konnten. Wieder war es stürmisch, die Äste schlugen peitschend auf und ab, Laub wirbelte strudelnd in den Schlamm und verdeckte alle Spuren, die noch nicht von den genagelten Sandalen der Soldaten zertrampelt worden waren.
»Versuch dich zu erinnern, mein Herz. Seid ihr den Berg hinaufgelaufen oder eher aufs Tal zu? Weißt du das noch? Habt ihr den Bach überquert?« Cerys hielt die Hand ihrer Tochter sehr fest und tat ihr Bestes, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.
»Wir haben Verstecken gespielt. Ich hab ihnen gesagt, sie dürfen nicht rauskommen.«
»Das war auch richtig so. Das hatte ich dir ja aufgetragen.« Cerys’ Stimme zitterte. »Aber jetzt müssen wir nach ihnen rufen.«
Es wurde bereits dunkel, finstere Regenwolken zogen vom Westen übers Land herein und raubten dem Sonnenuntergang alle Farben.
Zwei Legionäre näherten sich dem Offizier und salutierten. »Wir werden sie nicht finden, Präfekt. Wir haben jeden Zoll abgesucht. Entweder haben sie sich von allein auf den Weg gemacht, oder jemand oder etwas hat sie geholt.«
»Nein!« Cerys’ verzweifelter Aufschrei hallte durch die Bäume. Sie ließ Eigons Hand los und packte den Präfekten am Arm. »Bitte, Ihr dürft die Suche nicht einstellen. Das dürft Ihr nicht!«
Er betrachtete sie nachdenklich. Die Frau hatte Recht. Es war zwar weniger die Not der Kinder, die ihn davon abhielt, die Suche einzustellen, als vielmehr der Gedanke, was der Oberbefehlshaber sagen würde, wenn zwei
Weitere Kostenlose Bücher