Die Tochter des Königs
Mitglieder von Caratacus’ Familie fehlten. Geiseln waren immer ein wertvolles Unterpfand, und diese Geiseln noch mehr als andere. Das Gewicht, das sie bei Verhandlungen besaßen, war nicht zu unterschätzen. Er wandte sich an die beiden Legionäre. »Dehnt die Suche aus. Wenn es sein muss, die ganze Nacht hindurch. Holt fünfzig Mann Verstärkung.«
Justinus selbst brachte Cerys und ihre Tochter zum Lager zurück und begleitete sie bis zum Eingang ihres Zeltes. Als Eigon es betrat, ihr erschöpftes Gesicht vom Weinen verquollen, hielt er Cerys mit einer Geste zurück.
»Könntet Ihr die Männer identifizieren, die Euch überfallen haben?«, fragte er.
Cerys schüttelte den Kopf. »Ich habe das Bewusstsein verloren. Ich erinnere mich nicht an …«
»Und das Kind?«
Wieder schüttelte Cerys den Kopf. »Wie könnte ich sie danach fragen?«
»Wenn Ihr wollt, dass die Männer bestraft werden, müsst Ihr sie fragen.« Er sah sie mit einem strengen Blick an. »Herrin, bedenkt, dass dieselben Männer Euren Sohn und Eure jüngere Tochter gefunden haben könnten.«
Vor Kummer stöhnte sie auf und wandte sich ab. Als sie sich wieder zu ihm drehte, hatte er bereits salutiert und marschierte durch den Schlamm in die Dunkelheit davon. Die Wachposten vor ihrem Zelt kreuzten vor dem Eingang wieder die Lanzen. Innen, im warmen Licht der einen Öllampe, die auf der leeren Kleidertruhe stand, sah Cerys die Frau, die ihnen als Bedienstete zugewiesen worden war, wie sie Eigon das Haar mit einem Tuch trocknete.
»Mein Herz!« Sie bedeutete der Frau zu gehen, kniete sich vor ihre Tochter und umfasste ihre Oberarme. »Ich möchte, dass du mir etwas sagst. Der Mann, der dir so schrecklich wehgetan hat« - sie hielt kurz inne und sah Eigon unverwandt ins Gesicht -, »würdest du ihn wiedererkennen?«
Eigons Augen weiteten sich vor Entsetzen. Einen Moment war sie wie erstarrt, doch dann nickte sie widerstrebend.
»Woran würdest du ihn erkennen?«
»Er hatte Augen wie ein Wolf. Die Farbe von deinen Sonnentränen.«
Bernstein.
»Oben am Arm war er tätowiert. Aber es war kein schönes Muster wie bei unseren Kriegern, sondern grausam und hässlich. Das Bild von einem römischen Schwert, und darauf war etwas geschrieben.«
Cerys atmete tief durch, löste den Griff um die Arme ihrer Tochter und ballte die Hände in den Falten ihres Rockes so fest, dass die Knöchel weiß wurden. »Wenn du ihn sehen würdest, würdest du ihn erkennen?«
Das Mädchen nickte. »Sein Gesicht ist ein Bild in meinem Kopf. Und sein Arm auch. Ich habe mir den Arm genau angeguckt, als er« - sie schwieg, überwältigt von der schrecklichen Erinnerung -, »als er mir so wehgetan hat. Ich werde seinen Arm nie vergessen …«
»Sein Arm!« Jess riss die Augen auf. Der Arm quer über ihrem Hals, der sie nach hinten drückte, sie auf das Bett presste - plötzlich sah sie ihn so deutlich vor sich wie ihre eigene Hand, die zusammengeballt auf ihren Knien lag. Und der Arm war zwar gebräunt und mit feinen dunklen Haaren überzogen, aber es war eindeutig der Arm eines Weißen. Es war nicht Ash!
Sie saß immer noch mit dem Rücken am Baum gelehnt da. Die Sonne schien immer noch. Über ihr schrie ein Bussard, ein einsamer, wilder Ruf hoch oben in den Wolken. Plötzlich zitterte sie am ganzen Leib. Das Schwein! Er drückte sie aufs Bett. Sein Gesicht war da, über ihr, sie brauchte nur die Augen zu öffnen, dann würde sie sein Gesicht sehen. Aber sie sah sein Gesicht nicht. Die Erinnerung war fort.
»Verdammt!« Sie senkte den Kopf, bis die Stirn auf ihren Knien ruhte. William. Es musste William gewesen sein.
William - nein, die Vorstellung war unerträglich.
Aber wenn nicht William, wer dann?
Daniel?
Erst eine ganze Weile später stand sie auf und kehrte langsam zum Haus zurück.
Dort ging sie schnurstracks zum Telefon, um Daniel anzurufen. Sie konnte ihn ja zumindest fragen, ob er das Chaos im Esszimmer angerichtet hatte. Als Scherz, wie Rhodri gemeint hatte. Ein toller Scherz.
Der Anrufbeantworter blinkte. Eine Nachricht von Rhodri. »Jess? Ich habe gerade gesehen, dass es heute Abend auf
Radio 4 ein Hörspiel gibt, es geht um Cartimandua. Haben Sie je von ihr gehört? Hören Sie sich’s an. Ich glaube, es könnte Sie interessieren. Um acht Uhr.«
»Nein, ich habe nichts von ihr gehört! Wer zum Teufel soll Cartimandua sein?«, brummelte Jess, während sie Daniels Nummer wählte. Sein Telefon läutete endlos, doch weder Daniel noch sein
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