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Die Tochter des Königs

Titel: Die Tochter des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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weiß ich zumindest. Er ist in der Schlacht verwundet worden, aber war noch am Leben.«
    Die Stille im Raum verdichtete sich, bis sie mit Händen zu greifen schien. Das Atmen fiel Jess schwer, ihr Mund war trocken, ihre Augen brannten. »Bitte, Eigon, geh wieder. Ich kann dir nicht helfen. Ich würde es tun, wenn ich es könnte. Ich weiß, wie es dir geht …« Sie machte eine kurze Pause.
»Ich verstehe dich.« Natürlich verstand sie sie! Das Gefühl, des eigenen Willens beraubt zu werden, der Schmerz tief in ihrer Seele, die Qual einer Frau, die vergewaltigt und misshandelt und wie tot liegen gelassen worden war. Und dieses Mädchen war noch nicht einmal eine Frau gewesen, als die Männer über sie hergefallen waren!
    »Mein Herz, ich weiß, wie es dir geht. Aber mit der Zeit wird es besser.« Sie schauderte. Wie konnte sie das einfach so behaupten? Solche Gemeinplätze von sich geben? Und das zu einer vagen Schattengestalt, die mitten in ihrem Schlafzimmer stand, obwohl sie, Jess, nicht einmal wusste, ob das Kind noch lange gelebt hatte, ob sein Vater, seine Mutter und seine Geschwister noch lange gelebt hatten. Alle konnten wenige Tage oder Wochen nach der Schlacht hingerichtet worden sein. Eines stand auf jeden Fall fest: Mittlerweile waren sie alle tot.
    »Ich schlafe«, sagte sie unvermittelt zu sich selbst. »Das alles passiert überhaupt nicht. Das ist ein Traum. Ich schlafe, niemand ist hier. Ich bin ganz allein. Bald ist es Zeit, aufzustehen. Ich werde in der Sonne sitzen und frühstücken und mich fragen, worüber ich mich so aufgeregt habe. Ach was, ich werde mich an die ganze Sache überhaupt nicht erinnern.«
    Das Kind war fort, das spürte sie. Jess sah sich im Zimmer um. Da war niemand mehr. Das Mondlicht wanderte über den Garten. In wenigen Sekunden würde es ihr Schlafzimmerfenster erreichen und einen silbernen Strahl auf den Boden werfen, und damit würde ihre Angst vorbei sein. Sie legte sich hin, ihr Atem ging jetzt leichter. Wenige Minuten später war sie wieder eingeschlafen.
     
    Noch im Nachthemd, mit bloßen Füßen und ungekämmten Haaren trank sie am nächsten Morgen in der Küche schwarzen Kaffee, als das Telefon klingelte. Es war Rhodri. »Hören
Sie Radio? Dann schalten Sie es ein. Sofort. Ich rufe später wieder an.«
    Ihr dröhnte der Kopf, die Amnesie, die sie sich in der Nacht zuvor verordnet hatte, war ausgeblieben. Stöhnend stand sie auf und stellte das Radio an.
    »Viv Lloyd Rees und Pat Hebdens Dokudrama Königin des Nordens , das wir gestern Abend ausstrahlten, war ein großer Erfolg«, sagte der Moderator gerade. »Jetzt sitzen die beiden Damen bei mir im Studio. Wir werden uns über ihr Hörspiel unterhalten, über ihre Recherchen dafür und über die außerordentlichen Erlebnisse, die ihnen widerfuhren, als sie die Geschichte ihrer Heldin erforschten.«
    Jess setzte sich wieder, trank einen Schluck Kaffee und hörte dem Bericht der beiden Frauen zu. Indem sie die Vergangenheit untersuchten, hatten sie sie offenbar zum Leben erweckt. Selbst jetzt noch war ihnen unverkennbar unbehaglich dabei, über ihre Erfahrungen zu sprechen und die grauenhaften Erlebnisse zu schildern, die ihnen bei der Beschäftigung mit Cartimandua zugestoßen waren - Erlebnisse, die zu einer Katastrophe und sogar zu einem Todesfall geführt hatten.
    Jess lauschte der Sendung mit wachsendem Grauen und wachsender Faszination, bis zu den gespenstischen disharmonischen keltischen Klängen der Abspannmusik. Nachdenklich stellte sie das Radio aus und griff nach dem Hörer. »Woher wussten Sie, dass die Sendung läuft?«, fragte sie, als Rhodri abhob.
    »Das haben sie doch gestern nach dem Hörspiel angekündigt. Haben Sie das nicht gehört? Was sagen Sie dazu?«
    Jess hörte bei Rhodri im Hintergrund donnernde Orchestermusik spielen, und plötzlich wünschte sie sich, in der gemütlichen Küche der Prices zu sitzen. »Ich fand es erschreckend. Glauben Sie wirklich, was die beiden erzählt
haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das Stück über die Königin trotzdem fertig geschrieben haben. Ich hätte viel zu viel Angst gehabt, dass ich mit jedem Wort, das ich schreibe, die Toten noch weiter zum Leben erwecke.« Sie überlegte kurz. »Habe ich das auch gemacht, Rhodri? Die Geister hier geweckt?« Sie hatte ihre anfängliche Feindseligkeit gegenüber diesem Mann vergessen. Er verstand einfach vieles.
    »Ich weiß nicht, ob nur Sie das sind«, meinte er nachdenklich. »Schließlich hat Steph auch

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