Die Tochter des Königs
du?« Heißhungrig steckte sich Jess eine weitere Gabel Fettuccine alla marinara in den Mund. Seit der kurzen Rast an der Autobahn hatte sie nichts mehr gegessen. Es kam ihr vor, als wäre das in einer anderen Welt gewesen. Ein warmes Gefühl von Behaglichkeit machte sich in ihr breit.
Kim löffelte den Rest der Soße auf Jess′ Teller und warf Steph einen strengen Blick zu. »Keine Fragen jetzt«, sagte sie. »Jess ist kaputt. Morgen früh ist auch noch Zeit.«
Keine Stunde später hatte Jess ein Entspannungsbad genommen und lag im Bett. Sobald ihr Kopf das Kissen berührte, schlief sie ein. Aber es war ein unruhiger Schlaf, aus dem sie wenig später hochschreckte. Musik war durch ihren Kopf gehallt. Elgar. Rhodri Prices Stimme, die die dunklen Winkel ihres Gehirns ausfüllte. Nur war es nicht Rhodri Price, es war Caratacus.
Er stand in der Tür, sein markantes, wettergegerbten Gesicht war von Schmerz gezeichnet, die dichten, dunkelbraunen Locken von silbernen Strähnen durchsetzt, die Schulter und der Oberarm noch verbunden, die Hände mit schweren Ketten gefesselt. Er starrte seine Frau und seine Tochter an. »Wo ist er?«, fragte er. »Wo ist mein Sohn?«
Gequält rang Cerys die Hände. Er trat ins Zimmer, hinter ihm warf der Wachposten die Tür ins Schloss, dann hörten sie, wie der Riegel vorgeschoben wurde.
»Wir haben nach ihm gesucht. Wir haben überall nach ihm gesucht. Die Römer haben gesucht. Die ganze Legion hat sich an der Suche beteiligt …« Cerys’ Stimme stieg vor Kummer in die Höhe. »Eigon hat sie im Wald oberhalb des Schlachtfelds versteckt. Damit ihnen nichts zustößt. Aber als wir nach ihnen gesucht haben, waren sie nicht mehr da.«
Verzweifelt sah Eigon zu ihrem Vater. Sie begann zu zittern, Tränen traten ihr in die Augen. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich verstecken. Ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht rauskommen dürfen.«
Einen kurzen Moment war sein Gesicht von Wut verzerrt, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Das haben sie mir schon gesagt. Besteht die Hoffnung, dass unsere
Leute sie gefunden haben? Und sie in Sicherheit gebracht haben?«
»Darum bete ich«, sagte Cerys leise. »Ich bete jeden Tag zur Göttin Bride, dass sie sie beschützt. Du darfst Eigon keinen Vorwurf machen. Sie hat nur getan, was sie für richtig hielt.« Ein Lächeln ließ ihre Stimme weicher klingen, als sie sich zu ihrer Tochter umdrehte, doch ihr Kummer war nicht zu überhören. Unglücklich schluchzte Eigon auf.
Caradoc betrachtete das Gesicht seiner Frau. »Nichts lag mir ferner, als ihr einen Vorwurf zu machen. Komm her, mein Kind.« Ungeschickt streckte er die Arme aus, und Eigon lief zu ihm, schmiegte sich an seine Knie und drängte sich in seine gefesselten Arme. »Du hast richtig gehandelt, mein Herz, und du warst sehr tapfer.« Er gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Und wer weiß« - er schaute bekümmert zu seiner Frau -, »vielleicht werden Togo und Glads diejenigen sein, die überleben und unseren Kampf fortführen.«
Die Musik verklang, und Jess versank wieder in tiefen Schlaf. Als sie das nächste Mal aufwachte, ging sie zum Fenster, schaute in die Dunkelheit hinaus und lauschte den nächtlichen Geräuschen. Ihr Zimmer lag von der lärmenden Straße abgewandt. Von irgendwo hörte sie Wasser tropfen, aber dahinter war gedämpft das Summen des Verkehrs auszumachen. Jess lächelte. Die Ewige Stadt. Sie dachte daran, wie begeistert sie alle gewesen waren, als Kim ihre Verlobung mit einem römischen Adeligen verkündet hatte. Sie hatten geschworen, immer in Kontakt zu bleiben und gemeinsam mit Kim Italienisch zu lernen. Bei der Erinnerung verzog Jess das Gesicht. Nach all den Jahren beherrschte Kim die Sprache natürlich perfekt, während sie und Steph ihre Italienischstunden praktisch sofort wieder abgebrochen hatten. Ihr Gelübde, die Commedia Divina eines Tages
im Original zu lesen, hatte sie schändlicherweise widerrufen und sich eingestanden, dass sich ihre Beherrschung der Sprache auf einige nützliche Ausdrücke beschränken würde, die vorwiegend das Essen betrafen.
Als sie wieder aufwachte, war es schon spät am Morgen. Entzückt sah sie sich in dem großen Zimmer um. Als sie nachts ins Bett gegangen war, hatte sie den Raum, nur von der Nachttischlampe erleuchtet, vor lauter Müdigkeit nicht eingehender betrachtet und nur bemerkt, dass er wohnlich war und über den Luxus eines eigenen Bads verfügte. Jetzt stellte sie fest, dass sie in einem barocken
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