Die Tochter des Königs
Himmelbett lag, dessen Vorhänge mit Brokatschlaufen an die Pfosten zurückgebunden waren. Die etwas verblichenen Damastgardinen vor den Fenstern waren halb zugezogen, Sonnenstrahlen fielen auf die exotischen alten Teppiche und tauchten das Zimmer in ein warmes Licht. Jess stand auf, trat ans Fenster und sah in den Innenhof hinunter, der im Zentrum des alten Palastes lag. Das beruhigende Plätschern, das sie nachts gehört hatte, kam von einem reich verzierten Brunnen, der den Mittelpunkt der in kunstvollen Mustern angelegten Beete und Kieswege bildete.
»Bist du wach?« Steph stand in der Tür, zwei Tassen Kaffee in der Hand.
Jess drehte sich zu ihrer Schwester um und strich sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht. »Es ist himmlisch hier! Ich hoffe, Kim hat wirklich nichts dagegen, dass ich so urplötzlich aufgetaucht bin.« Noch während sie das sagte, merkte sie, dass sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit absolut sicher fühlte.
»Kim ist begeistert. Sie pusselt in der Wohnung herum.« Kurz runzelte Steph die Stirn. »Weißt du, ich glaube, sie ist ziemlich einsam. Solange Adriano lebte, war alles wunderbar, aber ich habe den Verdacht, dass sie kaum richtige
Freunde hier hat, und die meisten verbringen den Sommer irgendwo, wo es nicht so heiß ist. Neulich abends habe ich ein paar ihrer Freunde kennengelernt, aber die meisten wollten in den nächsten Tagen wegfahren.« Sie setzte sich aufs Bett und ließ die Füße baumeln. »Ich finde es toll, dass du doch gekommen bist, Jessie. Wir machen uns ein paar schöne Wochen.«
Jess warf ihrer Schwester einen skeptischen Blick zu. Sie wusste, das Kreuzverhör würde nicht lange auf sich warten lassen, es war nur eine Frage der Zeit. Mit einem Stich dachte sie an die Begeisterung, mit der sie ihre Schwester gefragt hatte, ob sie den Sommer in Ty Bran verbringen könne, um zu malen - da würde ihre Ankunft in Rom zu nachtschlafender Zeit jeden stutzig machen. Aber eins war sicher, sie würde Steph und Kim nie den wahren Grund für ihr plötzliches Auftauchen erzählen.
»Und was hat dich dazu veranlasst, deine Meinung zu ändern? Warum bist du plötzlich hergekommen?« Halb liegend stützte sich Steph auf den Ellbogen und trank einen Schluck Kaffee. Jetzt erst bemerkte sie, wie blass und mitgenommen ihre Schwester aussah.
Jess stellte ihre Tasse auf das Wandtischchen am Fenster und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Die Musik, die sie im Traum und auf der langen Autofahrt gehört hatte, hallte in ihrem Hinterkopf nach. Sie würde den beiden nichts von Daniel sagen, aber von Eigon konnte sie ihnen ja erzählen. »Steph, hast du in Ty Bran je eine Kinderstimme gehört? Eigons Stimme?«
Steph setzte sich auf. »Eine Stimme?«
»Eigon. Die Tochter von Caratacus!«
Steph sah sie verständnislos an.
»Das Gespenst! Das kleine Mädchen, das in deinem Atelier spukt.«
»Ach so.« Steph stand auf, ging langsam zum Fenster und schaute hinaus. »Ist das der Grund, weshalb du es dir anders überlegt hast und doch nicht allein in Ty Bran bleiben wolltest? Ist es dir unheimlich dort geworden?« Ihre Stimme klang beiläufig, aber Jess hörte ihre Anspannung heraus.
»So ungefähr«, gab sie widerwillig zu. Es war besser, Steph glauben zu lassen, sie habe sich von Gespenstern vertreiben lassen, als ihr den wahren Grund zu nennen.
Steph setzte sich wieder aufs Bett und lehnte sich mit untergeschlagenen Beinen ans Kopfteil. »In Ty Bran spukt es, so viel steht fest. Ich habe oft etwas gehört und auch gespürt. Aber richtig gesehen habe ich nichts.« Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die Seidenstickerei auf dem Kissenbezug. »Es hat mir nie Angst gemacht. Sonst hätte ich dich gewarnt. Mich stört es nicht, ganz allein da oben zu sein. Zumindest …«
»Sie hat mir keine Angst gemacht.« Jess setzte sich zu ihrer Schwester aufs Bett. »Nicht, nachdem ich mich erst einmal an sie gewöhnt hatte. Sie hat mich traurig gemacht. Sie ist so einsam, so hilflos. Kennst du die Geschichte? Eigon wurde zusammen mit ihren Eltern von den Römern gefangen genommen und hierhergebracht, nach Rom. Aber ihr kleiner Bruder und ihre jüngere Schwester sind im Wald in Ty Bran verloren gegangen.«
»Verloren gegangen?«
Jess nickte. »Sie hatten sich vor den Soldaten versteckt. Die haben zwar Eigon gefunden, aber nicht die beiden anderen. Zumindest glaube ich, dass sie sie nicht gefunden haben.«
»Und du glaubst, dass sie immer noch nach ihnen sucht?« Steph schüttelte den
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