Die Tochter des Königs
Daniel stand auf der Terrasse und betrachtete die neue Glasscheibe, die in der Nachmittagssonne glitzerte. Eine Ecke war noch mit Fensterkitt verschmiert. Er kratzte mit dem Fingernagel daran, dann drehte er sich um und betrachtete skeptisch den Garten. Nach einem Rundgang über das ganze Grundstück wusste er, dass sie nicht mehr da war. Von ihrem Auto war nichts zu sehen, und die Zimmer oder das, was er von ihnen sah, wenn er durch die Fenster schaute, wirkten aufgeräumt. Er glaubte, die Leere förmlich greifen zu können.
Wütend ging er zur Haustür und fischte aus der Hosentasche den Schlüssel, den er von einem Haken in der Küche mitgenommen hatte, bevor er heimgefahren war, um seine aufgebrachte Frau zu beschwichtigen.
»Verdammt nochmal, du hättest mir sagen können, dass du über Nacht wegbleibst!« Natalies Stimme dröhnte in seinem Kopf wie eine Endloskassette. Entnervt verzog er das Gesicht. »Ich habe mir alle möglichen Schreckensszenarien ausgemalt. Dir hätte etwas zugestoßen sein können!« Dann hatte sie eine Pause gemacht, ihre Augen hatten sich verengt. »Wahrscheinlich wirst du behaupten, du hättest wieder nach Büchern gesucht, aber das stimmt nicht, das weiß ich doch. Du hast die Nacht bei ihr verbracht! Du
Schwein! Das hätte ich mir gleich denken können. Du warst nicht in Buchläden, du hast die Englischlehrerin gevögelt!«
Er hatte natürlich alles abgestritten, mehr als einmal, und schließlich hatte sie ihm offenbar geglaubt. Aber er musste sicherstellen, dass Jess nichts ausplapperte. Schweiß trat ihm auf die Oberlippe. Er konnte es sich nicht leisten, seine Ehe aufs Spiel zu setzen. Nicht jetzt, wo seine Beförderung anstand.
Vom Fuß der Treppe aus schaute er in den oberen Stock. Ein einzelner Sonnenstrahl erhellte die Decke und beleuchtete das Gemälde an der Wand, ein Aquarell mit Felsen und Eiben ganz ähnlich der Szene, die er draußen vor dem Fenster sah. Langsam ging er nach oben.
Die Schlafzimmertür stand offen. Er trat ein und sah sich um. Sie hatte nichts zurückgelassen. Die Schränke und Schubladen waren leer, auf der Kommode lagen weder ihre Kämme noch Kosmetik. Er ging zum Bett, das ordentlich gemacht und mit dem Patchwork-Quilt zugedeckt war. Von plötzlicher Wut übermannt, riss er ihn fort, fiel auf die Knie und presste sein Gesicht aufs Laken, atmete ihren schwachen Duft ein, fast überlagert vom Geruch des Waschmittels. Stöhnend krallte er die Finger in die Kissen. Die Stille im Raum schien immer dichter zu werden, während er zitternd dort kniete. Nach einer Weile schaute er schließlich auf.
Wo bist du? Dürfen wir jetzt rauskommen?
Die Kinderstimme war sehr leise.
Er umklammerte die Kissen noch fester.
Wo bist du?
»Nein!« Das Gesicht vor Angst und Wut verzerrt, sprang er auf, schleuderte das Kissen quer durchs Zimmer und rannte zur Tür hinaus nach unten.
In der Küche blieb er stehen und versuchte, sich zu beruhigen. Einbildung, mehr nicht. Seine Fantasie ging mit ihm
durch. Eine Reaktion auf Jess’ verrücktes Verhalten. Einen Moment hatte er fast geglaubt, eine fremde Macht habe ihn in der Gewalt. Ein Zorn, gewaltiger als er ihn je zuvor empfunden hatte. Daniel ging zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er musste weg von hier, und zwar sofort. Zurück nach Shrewsbury, bevor Natalie wieder misstrauisch wurde.
Als er zur Tür ging, streiften seine Finger den Schlüssel in seiner Hosentasche, und er nahm ihn heraus. Jess war fort, das war offensichtlich. Er würde den Schlüssel nicht mehr brauchen, also konnte er ihn genauso gut wieder an den Haken hängen. Dann würde auch niemand erfahren, dass er noch einmal hier gewesen war. Er ging zur Pinnwand. Da hing ein Zettel, den er beim letzten Mal nicht gesehen hatte. »Kims Nummer« stand darauf, gefolgt von vielen Ziffern. Kim. Er grinste. War Jess zu ihr gefahren? Je länger er darüber nachdachte, desto logischer erschien ihm der Gedanke. Sie hatte geglaubt, sie könnte vor ihm davonlaufen. Sich verstecken. Ihrer Schwester lauter Lügen über ihn auftischen. Allerdings hatte sie vergessen, dass er Kim fast genauso lange kannte wie sie, dass Kim sogar einmal in ihn verknallt gewesen war, vor langer Zeit, als sie alle zusammen am College waren. Er griff zum Telefonhörer. Der Wählton bestätigte, dass die Leitung repariert worden war. Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, wo Jess jetzt steckte und wie viel sie den anderen erzählt hatte. Langsam wählte er die
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