Die Tochter des Königs
aufgeregten italienischen Wortschwall anstieg, verstummten alle.
»Steph hat Recht, jetzt ist sie nicht mehr zu bremsen«, sagte William leise und lächelte Jess verständnisvoll zu. »Ich vermute, wir sollten gute Miene zum bösen Spiel machen!«
Das Telefongespräch endete mit einem euphorischen Ciao, a presto! , dann drehte sich Kim triumphierend zu den anderen um. »Sie kommt in einer halben Stunde. Wir haben gerade noch Zeit, fertig zu essen. Also, lasst es euch schmecken, ragazzi . Es wird eine lange Nacht werden!«
»Zuerst lege ich die Karten.«
Sie saßen in Kims behaglichem Wohnzimmer um den Couchtisch, Steph und William auf dem Sofa, Jess und Kim auf Kissen am Boden, Carmella in einem Sessel am Kopfende
des Tisches. Auf dem Bücherregal hinter ihr flackerten einige Kerzen, sonst war es dunkel im Raum. Die Fenster standen offen, vom Hof drang das Plätschern des Brunnens herauf. In den anderen Wohnungen brannte nirgends Licht, die meisten Bewohner des Palazzo waren zu ihren Sommerwohnsitzen in den Bergen oder an der Küste gefahren. Unwillkürlich schauderte Jess.
»Also gut, beginnen wir.« Carmella warf ein Lächeln in die Runde. Sie hatte ihr schwarzes Haar mit einem leuchtend roten Tuch zurückgebunden, das ihre lebhaften dunklen Augen noch mehr zur Geltung brachte.
Dieses Mal hatte sie ihr eigenes Kartendeck dabei. Es war in ein Tuch aus schwarzer Seide gewickelt, das sie ehrfürchtig auffaltete, ehe sie langsam die Karten mischte.
Sie sah zu Jess. »Hast du etwas, das dem Kind gehört?«, fragte sie.
Jess schüttelte den Kopf. »Sie hat vor fast zweitausend Jahren gelebt!«
»Ah so.« Die Auskunft schien Carmella nicht weiter zu beeindrucken. »Macht nichts. Jetzt brauche ich ein bisschen Ruhe.«
Sie schloss die Augen. Die Stille im Raum wurde vom Geräusch eines Martinshorns unterbrochen, das irgendwo in der Ferne schrillte.
» Va bene. Fangen wir an.« Carmella legte den Stapel auf den Tisch und hob ab. William schaute auf und begegnete Jess’ Blick. Als er den Mund verzog, lächelte sie. Das würde gar nichts bringen, aber wenn die anderen ihr Vergnügen daran hatten, wollte sie ihnen den Spaß nicht verderben. Entschlossen verdrängte sie das leise Unbehagen, das sich tief in ihrer Magengrube regte, trank einen Schluck Wein und betrachtete dabei die Karten, die Carmella auf dem Tisch verteilte. In der polierten Oberfläche des alten Holztischs
spiegelte sich warm das Kerzenlicht, kein Lüftchen wehte zu den Fenstern herein. Die Nacht war sehr warm und still.
»Gut. Ich fange an mit der Karte des Kindes.« Carmella griff wie zufällig nach einer Karte und drehte sie um. » Il fante di bastoni. Hier ist sie ja wieder.«
Jess stockte der Atem. Keiner sagte ein Wort.
Langsam und methodisch drehte Carmella die anderen Karten in der Auslage um. Eine schwere Stille legte sich über den Raum. William und Steph tauschten einen Blick, während Carmella dasaß und die Karten studierte. Sie beugte sich vor und klopfte mit einem scharlachroten Fingernagel auf den Tisch. Schließlich schaute sie auf. »Diese junge Dame ist in Gefahr. Jemand aus ihrer Vergangenheit sucht nach ihr. Jagt sie durch die Jahrhunderte.« Sie runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Sehr schwierig. Molto pericoloso. Eine solche Auslage habe ich noch nie gedeutet. Und ihr wollt, dass ich versuche, mit ihr zu reden?« Zweifelnd sah sie von Kim zu Jess.
»Ist sie alt geworden?«, fragte Jess im Flüsterton. »Oder ist sie als Kind gestorben? Kannst du das in den Karten sehen?«
Carmella betrachtete wieder die Karten auf dem Tisch. »Sie spricht aus zwei Welten.« Sie fuhr mit den Fingern über die mittleren Karten. »Du hast gesagt, sie hat vor zweitausend Jahren gelebt. Das heißt, sie ist jetzt natürlich ein Geistwesen.«
»Ja, aber wie alt ist sie geworden?« Jess beugte sich vor. »Kannst du ihre Familie sehen? Sie hat einen Bruder und eine Schwester verloren. Sind die beiden auch da?«
»Die Karten sprechen von Qualen und Angst. Sie sprechen von Entschlüssen.« Carmella klopfte wieder mit dem Finger auf den Tisch. »Sie sprechen von Verlust und Zorn
und Trauer. Und sie sprechen von Liebe. Am Ende ihres Lebens hat sie Liebe gefunden, aber für wie lange und mit wem, das kann ich dir nicht sagen.« Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht war es im Augenblick ihres Todes.« Kopfschüttelnd fegte sie die Karten zu einem Haufen zusammen und lehnte sich zurück. »Ich weiß nicht recht, ob wir sie wirklich rufen
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