Die Tochter des Königs
Kleinigkeiten.«
»Und wo ist Natalie?«, fuhr Jess dazwischen.
»Mit den Kindern in Shrewsbury.« Daniels Stimme war kalt. »Wir dachten, dass Rom im Sommer für die Kinder nicht gerade ideal ist. Vor allem nicht, wenn ihre Großeltern sie von vorn bis hinten verwöhnen.«
»Und was hast du so dringend in Rom zu erledigen?«, fragte Jess brüsk. William und Steph betrachteten sie mit wachsender Verwunderung.
Daniel lächelte. »Erinnerst du dich nicht, Jess? Ich habe dir doch genau erklärt, was ich hier zu tun habe. Ich habe Natalie gesagt, dass ich an einer Konferenz über Bildungsfragen teilnehme.«
»Von der höre ich das erste Mal.« Es gelang ihr, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. Sie ging zur Tür. »Gute Nacht«, sagte sie in die Runde.
»Gute Nacht, Jess«, sagte William leise.
Sie warf ihm ein Lächeln zu. Einen Moment hatte sie ganz vergessen, dass er da war.
Im Korridor blieb sie kurz stehen und versuchte, sich zu sammeln und einen klaren Gedanken zu fassen. Aus dem Wohnzimmer drang lautes Lachen. Was in aller Welt sollte sie jetzt tun?
Als sie die Tür ihres Zimmers hinter sich zuzog, stellte sie fest, dass im Schloss ein riesiger, kunstvoll geschmiedeter Schlüssel steckte, der sich mühelos drehen ließ. Mit der Hand auf der Klinke blieb sie stehen und redete sich selbst gut zu. Im Moment konnte Daniel ihr nichts anhaben. Er würde es nie schaffen, die schwere Tür einzutreten. Davon abgesehen, was konnte er hier, mit drei anderen Leuten in der Wohnung, überhaupt tun?
Sie ging zum Fenster, öffnete die Läden und sah nach draußen. Die anderen drei Seiten des Palazzo lagen alle in Dunkelheit da. Der Hof unter ihr mit den Töpfen und Statuen und dem Brunnen war nicht auszumachen. Nur das Plätschern des Wassers trieb durch die heiße Nachtluft zu ihr herauf. Sie ließ die Fenster offen stehen und drehte sich zum Bett um.
Gut drei Meter vor ihr stand eine Gestalt auf dem verblichenen Aubusson-Teppich.
»Eigon?«, flüsterte sie. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den ganzen Körper.
Es war ganz eindeutig Eigon: klein und zierlich, ihr wirres dunkles Haar im Nacken zu einer Art Knoten zusammengefasst. Sie trug eine helle lange Tunika, um ihre Handgelenke lagen Silberreifen. Jess starrte das Mädchen an. »Du bist gekommen. Du hast Carmella gehört …« Doch die Gestalt begann vor ihren Augen zu verblassen. Zuerst sah Jess durch den feinen Stoff der Tunika den Teppich, dann das Bett, und schließlich war Eigon völlig verschwunden.
»Eigon!«, rief Jess. »Warte! Ich will dir helfen!«
Sie ließ sich in den tiefen Samtsessel neben dem Fenster sinken und merkte, dass sie am ganzen Leib bebte. Sie hatte das Kind gesehen, hatte ihm in die Augen geblickt. Eigon war zu ihr gekommen.
Jess schaute zur Tür. Sie wollte zu Steph. Sie wollte mit Steph reden. Aber dafür musste sie das Zimmer verlassen.
Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und legte das Ohr gegen das schwere Holz. Warum zum Teufel war Daniel nach Rom gekommen? Weshalb war er ihr gefolgt? Trotz ihrer Angst regte sich Wut in ihr. Wollte er sie derart einschüchtern, dass sie Stillschweigen bewahrte? Oder wollte er sie immer noch umbringen?
Kopfschüttelnd trat sie von der Tür zurück und rief sich selbst zur Ordnung. Das war doch Unsinn. Natürlich wollte er sie nicht umbringen, das hatte er nie gewollt. Das war melodramatischer Quatsch. Er hatte ihr einen Schrecken eingejagt, und sie hatte überreagiert. Sie brauchte ihm nur zu versichern, dass sie niemandem erzählen würde, was er getan hatte. Schon aus Selbstschutz würde sie das nicht. Oder doch? Plötzlich zitterte sie wieder. Eine kühle Brise wehte zu den Fenstern herein, selbst die schweren Vorhänge bewegten sich.
Vom Gang war ein Knarzen zu hören. Jess erstarrte. Da draußen war jemand. Sie drückte das Ohr wieder an die Tür und lauschte angestrengt. Stille. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr auf der anderen Seite jemand gegenüberstehen. »Daniel?« Sie hauchte das Wort tonlos in die Stille. Langsam bewegte sich die Klinke, die Tür ächzte leise, als jemand sich von außen dagegenstemmte. Das Schloss gab nicht nach. Jess hörte ein leises Lachen. Ein männliches Lachen.
Sie lief zum Fenster und schaute hinaus. Vom Hof konnte unmöglich jemand in ihr Zimmer gelangen. Die Mauer
war zu hoch, und es gab weder Rankpflanzen noch Regentraufen. Quer vor den unteren Teil des Fensters verlief ein schmiedeeiserner Rost, eher ein Halter für Topfpflanzen als ein
Weitere Kostenlose Bücher