Die Tochter des Leuchtturmmeisters
Karin nicht aus den Augen.
Sie seufzte. Es war also bereits durchgesickert, dass es sich um einen Mann handelte. Andererseits war ihr Gegenüber Polizist, oder jedenfalls war er Polizist gewesen, wie Folke sagen würde. Der öffnete den Mund, um etwas loszuwerden, aber Karin übernahm schnell wieder das Kommando. Man konnte nie wissen, was aus diesem Munde kam, und Karins manchmal etwas voreilige Fragen waren mit Sicherheit besser als Folkes gründlich durchdachte.
»Nein«, antwortete Karin. »Wir wissen nicht, wer er ist.« Sie blickte erst zu Folke und dann zu Sten.
»Trennblatt Nummer fünf«, sagte Sten. »Dort befinden sich im Ordner Fotos von allen.« Er lächelte und berichtete kurz über die Fälle.
Elise schüttelte den Kopf, als sie die Namen hörte, und sagte »wie traurig« und »so jung«.
Folke und Karin schauten sich die Bilder an.
»Erkennt ihr ihn?«, fragte Sten neugierig.
Karin begriff, über welch erstklassigen Tratsch man verfügen würde, wenn man erzählen könnte, wer im Vorratskeller draußen auf Pater Noster gefunden worden war. Aber obwohl der Mann hier ein früherer Polizist war, mussten zuerst die Angehörigen unterrichtet werden.
»Schwer zu sagen, ob es jemand von denen ist«, gab Folke etwas unbestimmt zur Antwort. Ein ungewöhnlich vernünftiger Kommentar aus seinem Munde.
»Es muss ja auch niemand von denen sein«, ergänzte Karin. »Vielleicht ist es jemand ganz anders, der nicht mal als vermisst gemeldet wurde.«
Sten sah beide prüfend an und schien enttäuscht.
»Ihr könnt den Ordner ausleihen, wenn ihr wollt, ich hätte ihn nur gern zurück. Es ist wohl nicht ganz richtig von mir, ihn hier zu Hause zu behalten, aber, wie gesagt, das sind ja derart alte Sachen …« Sten massierte sein schmerzendes Bein. »Ich hoffe, er nützt euch was, dort findet ihr alle Berichte und auch die Umstände des Verschwindens dieser Personen.«
Karin bedankte sich für den Ordner und für den Kaffee. Sten machte Anstalten aufzustehen, sank jedoch mit einer Grimasse in den Sessel zurück. Karin drückte ihm die Hand und versprach, dass sie sich wieder melden würde. Elise begleitete sie in den Flur. Sie rieb sich nervös die Hände, als hätte sie Handcreme aufgetragen, die nicht richtig einziehen wollte.
»Ihr solltet mit Marta reden«, sagte sie vorsichtig.
»Wer ist das?«, erkundigte sich Karin.
»Marta Striedbeck. Sie weiß so gut wie alles.«
Sten stand, auf seine Krücken gestützt, in der Türöffnung und schaute sie sichtlich irritiert an.
»Wohnt sie hier draußen?«, fragte Karin rasch, damit Elise es sich nicht anders überlegte.
»Sie wohnt auf Koön, in der Slottsgatan. Die liegt hinterm Konsum«, erwiderte Elise.
»Coop«, warf Folke ein, worauf Elise »Wie bitte?« sagte.
»Der Laden heißt Coop.«
»Ja sicher, so heißt er heute. Der wechselt alle naselang den Namen. Jedenfalls wohnt sie einen oder vielleicht zwei Häuserblocks dahinter.«
Karin bedankte sich und winkte, als Elise die Tür hinter ihnen zuzog. Die Gardine im Fenster mit den Porzellankatzen bewegte sich, und sie gingen ein Stück die Straße entlang, bevor sie miteinander sprachen.
»Hast du ihn erkannt?«, fragte Karin.
Folke blieb stehen und schlug den Ordner auf. Langsam blätterte er ihn durch, minutiös wie immer.
»Nein, das kann ich nicht behaupten. Es könnte der sein … oder der … oder …«
Die Männer auf den Fotos schauten sie über die Zeit hinweg an. Es ließ sich nicht feststellen, ob der auf Pater Noster Gefundene einer von ihnen war.
Alle Berichte stammten von einem I. Fredelin, mit Ausnahme des Berichts über Arvid Stiernkvist, den Sten selbst verfasst hatte. Die meisten waren kurz und bündig, umfassten maximal zwei mit Maschine beschriebene A4-Seiten, doch der Bericht über Arvids Verschwinden nach einem Segelunfall füllte vier, war gründlich und voller Details. Karins Handy klingelte. Sie hörte zu, hob den Daumen in Richtung Folke und zeigte auf den Hörer.
»Nicht zu glauben! Ja, natürlich. Danke!«
»Das war Roland Lindström. Du kommst nie darauf, was sie gefunden haben.«
Marstrand, 1962
Arvid saß wieder auf der Veranda des Gesellschaftshauses. Als die Kellnerin auftauchte, spürte er, wie enttäuscht er war. Es war nicht sie. Er widerstand zunächst seinem Impuls, nach ihr zu fragen, später aber tat er es dennoch.
»Entschuldigen Sie, Fräulein, die Bedienung, die letzten Samstag hier war …«
»War etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit?« Die
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