Die Tochter des Leuchtturmmeisters
einen Fahrplan hervorgezogen, die entsprechende Seite aufgeblättert und ihn Karin gereicht. »Von Koön nach Marstrandsön 12.07, 12.22, 12.32, 12.52.« Karin bedankte sich und steckte den Fahrplan ein. Die Fähre war voller Handwerker, die vermutlich Mittag gemacht hatten und nun auf dem Rückweg waren. Sowohl Schweden als auch Polen. Karins Blick wurde von einem Mann angezogen, der schräg vor ihr stand. Er trug eine dunkelblaue Hose undeinen weißen Strickpullover mit kleinem Emblem auf der linken Brustseite. Die Glatze wurde von einer Sportmütze verdeckt, auch sie ein Markenprodukt. Eine laute Stimme in ihrem Rücken ließ Karin zusammenfahren.
»Hallo, Per!« Ein Mann mit einer jüngeren Frau im Schlepptau bahnte sich seinen Weg zwischen den Blaumännern. Er redete so geräuschvoll, als sei der Angesprochene gehörgeschädigt.
»Ach, schau an, hallo. Was machst du denn in dieser Gegend?« Der Mann in den Markenklamotten sprach mit affektierter nasaler Stimme. Alle spielten P. G. Gyllenhammar, dachte Karin.
»Wollte mal nach Marstrand rüber, mit meiner Frau.« Der Mann schob seine Begleiterin nach vorn.
Er schien genau der Typ zu sein, der sie als seinen Besitz betrachtete, war Karins Überzeugung.
»Irina«, sagte die Frau und streckte die Hand aus. Sie trug einen viel zu kurzen Rock und High Heels. Perfekt zum Spazierengehen auf Kopfsteinpflaster, dachte Karin. Die Lippen der Frau waren unnatürlich füllig, genau wie ihr Busen. Die Haare waren platinblond, doch am Ansatz dunkel. Der Mann, der sie an der Hand hielt, schien mächtig stolz zu sein.
»Per«, sagte der Angesprochene und legte die Finger an die Sportmütze. »Enchanté«, fügte er in seinem besten Schulfranzösisch hinzu und küsste der Frau die Hand.
»Ui, ui, hier muss ich wohl dazwischengehen«, scherzte Irinas Gatte.
Karin seufzte indigniert. Himmel noch mal. Die Männer sprachen weiter über den Kopf der Frau hinweg.
»Ich bin ja eine neue Ehe eingegangen.«
»Habe es gehört. Gratuliere! Eine Tour hier raus ist ja immer schön.«
»Stimmt. Wie laufen die Geschäfte?«
»Gut. Verdammt gut«, erwiderte Per.
»Wie viele Schiffe habt ihr denn jetzt?«
»Äh, tja, es sind wohl elf, und dann sind da noch ein paar, bei denen wir Teileigner sind«, antwortete Per mit lauter Stimme und hoffte, dass möglichst viele hörten, was für ein verdammt cleverer Geschäftsmann er war. Mein Gott, dachte Karin. Folke schaute aufs Wasser und nach den Vögeln und schien gänzlich uninteressiert an dem Gespräch vor ihnen.
»Also wir haben in Polen gewaltig expandiert. Du weißt ja, wir vermitteln polnische Arbeitskräfte.«
»Ja, genau, wie interessant«, sagte Per, doch klang es keineswegs so, als meinte er das auch.
»Vielleicht können wir ja mal vorbeikommen und Anita begrüßen?«
»Sicher, das wäre bestimmt sehr nett, aber gerade heute ist es etwas ungünstig.« Der Mann, der sich als Per vorgestellt hatte, räusperte sich. Karin konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Per hatte nicht die geringste Lust auf einen Besuch der beiden.
»Ich hätte ein Geschäft vorzuschlagen, das dich vielleicht interessiert.«
»Ja also, unsere Pläne lassen sich möglicherweise ändern. Hast du eine Karte, dann rufe ich dich auf dem Handy an.«
Der Mann wühlte in seinen Taschen, fand aber nichts und nahm stattdessen die glatte, mit einem blauen Anker bedruckte Karte von Per entgegen. Mit einem Rums legte die Fähre an der Insel Marstrand an, und die Schranken gingen hoch, um die Fahrgäste an Land zu lassen.
Das Zeichen war gekommen. Traurig, aber auch voller Freude hatte sie das eingesehen. Eine Zeitlang blieb sie noch mit dem Kuvert in ihrer runzligen Hand sitzen und schaute es an. Dann zog sie den Mantel an und schloss die Tür hinter sich. Beim Briefkasten blieb sie stehen und sah sich um. Menschen gingen die Straße mit raschen Schritten entlang. Mehrere rannten fast, meist zum Bus oder zur Straßenbahn. Heutzutageschienen es alle eilig zu haben. Wer Eile hatte, war schließlich wichtig, wurde von der Gesellschaft gebraucht. Irgendjemand wartete auf genau diese Person. Ein Kind in der Kita, ein Personalchef vor einem Einstellungsgespräch, vielleicht stand auch eine Planungssitzung an, oder man musste einen Arzttermin wahrnehmen. Wer langsam ging, war alt, arbeitslos oder krank.
Ehrfürchtig zog sie das Kuvert heraus und ließ es im Bauch des Briefkastens verschwinden, nachdem sie sich zunächst vergewissert hatte, dass die Briefmarke
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