Die Tochter des Leuchtturmmeisters
ließ den Motor an und fuhr rückwärts aus der Parklücke, bevor er den Schalthebel auf F stellte. Ein Mann kam vom Eingang, der einen Rollstuhl mit einer gravierend übergewichtigen Frau vor sich herschob. Sie trug ein unvorteilhaftes, klein geblümtes Kleid, das mehr einem Zelt als einem Kleidungsstück glich. Gott, wie war sie nur in den Rollstuhl hineingekommen, dachte er zuerst, dann fiel ihm ein, dass er ein besserer Mensch werden wollte, und er versuchte, Sympathie für die Frau zu empfinden, die ja vielleicht krank war. Schwer war sie jedenfalls, denn das Gefährt bewegte sich nur langsam vorwärts. Statt zu bremsen und die Leute auf dem Fußgängerüberweg des Krankenhauses vorbeizulassen, trat er aufs Gas. Der Mann zerrte den Rollstuhl zurück und erhob drohend die Faust. Die Frau schrie auf. Ihr habt bestimmt noch mehr Zeit zum Leben als ich, dachte er und verließ das Krankenhausgelände.
5.
Per betrachtete das handgeschriebene Kuvert. Dann drehte er es um und las den Absender. Rolf Larsson. Der Name sagte ihm nichts. Er bekam nicht oft richtige Briefe. Heutzutage waren es meist E-Mails, und das war absolut nicht dasselbe. Ein Brief wirkte echter, so als sei er mit mehr Sorgfalt und Umsicht geschrieben. Man hatte nicht einfach nur auf »Senden« geklickt.
Seine Schuhe hinterließen schmutzige Spuren auf dem Klinkerboden. Er riss das Kuvert auf dem Weg in die Küche auf. Darin lagen ein kurzes Anschreiben und ein weiteres Kuvert. Auf der Schwelle stehend, las er die wenigen handgeschriebenen Zeilen: »Lieber Per-Uno!« Das hier kam offenbar von jemandem, der ihn nicht kannte. Keiner hatte ihn je Per-Uno, also mit seinem vollen Namen genannt.
»Mein Vater hat 2004 den Nachlass eines Kapitäns zur See namens Karl-Axel Strömmer gekauft. Da mein Vater kürzlich verstorben ist, bin ich seine Hinterlassenschaft durchgegangen und fand einen Brief, den er an Sie adressiert hat. Er liegt bei. Sollten Sie weitere Fragen haben, erreichen Sie mich unter …«
Per zog die Schuhe aus. Die Telefonnummer beachtete er nicht. Stattdessen fiel sein Blick auf das zweite Kuvert in seiner Hand. Dort stand sein Name, fein säuberlich in altmodisch verschnörkelter Schrift geschrieben: Per-Uno Lindblom. Es sah so feierlich aus. Er wollte das Kuvert nicht aufreißen, sondern ging in die Bibliothek und nahm den Brieföffner aus dem englischen Schreibtisch. Das Modellschiff, das ihm Karl-Axel geschenkt hatte, als er sein Kapitänspatent bekam, hing an zwei Messinghaken von der Decke. Sie hatten es gemeinsam dort aufgehängt, Karl-Axel und er, nach langer Diskussion, in welche Richtung der Bug weisen sollte. Wohin war dasSchiff unterwegs, auf nördlicher Route nach Lysekil oder einem anderen Hafen Bohusläns, oder vielleicht gen Westen, nach Dänemark oder England? Oder fuhr es südwärts Richtung Deutschland? Einen halben Tag hatten sie gebraucht, um sich die Fracht und den Bestimmungsort zu überlegen und die für die Jahreszeit typischen Windrichtungen zu berücksichtigen. Zur selben Zeit renovierten sie das Zimmer, früher hatte es einem seiner Söhne gehört, und gestalteten es zur Bibliothek um. Zusammen mit Karl-Axel hatte er die dunkle Täfelung angebracht. Die Arbeit war zeitraubend, und Anita fand es unpassend, dass sie, statt das Zimmer fertigzustellen, einen halben Tag über die Route des Modellschiffs diskutierten. Per hatte seit damals nichts daran geändert, nur ein Spotlight mit integriertem Dimmer anbringen lassen, auch das nach Karl-Axels Anweisungen. Das Licht war genau auf das Schiff gerichtet.
Per erinnerte sich daran, als sei es gestern gewesen. Mit fünfzehn hatte er seine weinende Mutter verlassen und war zur See gegangen. Die erste Reise führte ihn nach Rio. Das große weiße Schiff hatte in Göteborg gelegen, wo er angeheuert hatte. Die M/S Ryholm der Schwedischen Amerika-Linie. Er war die Gangway erst zur Hälfte hinaufgestiegen, als ihn ein Mann mit einem Lächeln an Bord willkommen hieß. Es war der Erste Offizier Karl-Axel Strömmer, braungebrannt und muskulös und der kompetenteste Seemann, dem Per in seinem ganzen Leben begegnet war. Wenn Karl-Axel das große Schiff geführt hatte, durfte Per mit auf Wache gehen. Per war vaterlos aufgewachsen, und Karl-Axel hatte nie einen Sohn gehabt. Die beiden fanden sofort zueinander, und Karl-Axel brachte dem Jungen sein ganzes Wissen bei. All die Jahre waren sie gemeinsam zur See gefahren, und als Per selbst Erster Offizier wurde, fuhr er bei Karl-Axel
Weitere Kostenlose Bücher