Die Tochter des Leuchtturmmeisters
mit, der inzwischen zum Kapitän aufgestiegen war.
Karl-Axel hatte sich nie eine eigene Familie angeschafft. Manches Weihnachten verbrachte er bei Anita und Per, dochschien ihn Rastlosigkeit zu überkommen, sobald er nicht auf einem schwankenden Schiffsdeck stand oder in einer Koje an Bord schlief. Sein Bart war mit den Jahren weiß geworden, und die Jungen hatten Großvater zu ihm gesagt. Das hatte ihn derart gerührt, dass er »raus musste, um die Pfeife zu reinigen«, wie er es nannte. Per hatte Mühe, sich vorzustellen, dass in den Adern des alten Mannes etwas anderes als Salzwasser geflossen war. Er hatte immer gedacht, Karl-Axel würde irgendwann an einem warmen Ort mit Blick aufs Meer leben, wo er ein kleines Boot zur Verfügung hatte.
Ein gerader Schnitt mit dem Brieföffner enthüllte nun das hellgrün gefütterte Innere des Kuverts. Per zog den Brief heraus und las. Als er damit fertig war, fing er noch einmal von vorn an. Karl-Axel, der alte Fuchs, dachte er, als er aufstand und zu seinem Schiffsmodell ging. Das Ruderhaus ließ sich tatsächlich abnehmen. Per legte es auf den Schreibtisch und drehte den Dimmer auf, um besser sehen zu können. Eine Messingzwecke wurde an der Stelle sichtbar, wo das Ruderhaus gestanden hatte. An ihr war eine dünne geteerte Schnur befestigt, die ins Schiffsinnere führte. Vorsichtig zog er daran. Ein schabendes Geräusch war aus dem Rumpf zu hören, sobald er an der Schnur zog. An ihrem Ende hing ein sorgfältig gefaltetes, vergilbtes Stück Papier. Mit Hilfe des Brieföffners beförderte er es zutage. Langsam faltete er das Blatt auseinander und las.
Neptuns Hügel und Monsungebirg’
mit weißen Kämmen dann und wann
in ständig wechselndem Farbgewirk.
Dorther durch Nebel, Gischt und Gebraus
weißblitzend grüßt das Elternhaus.
Die Braut so auffallend schön,
voll Stolz steht der Bräutigam,
doch nie ward er gehend gesehn.
Ein Gerät aus vergangener Zeit
vom Ort der Ruhe nicht weit.
Per drehte das Blatt um. Leer. Zuerst war er enttäuscht, dann aber spürte er, wie seine Erwartung noch weiter zunahm. Eine Schatzsuche. Typisch Karl-Axel, dachte er. Der liebte so etwas und hatte oft von Piraten und verborgenen Schätzen gesprochen. Dieser Mann war ein unglaublicher Geschichtenerzähler gewesen, mit seinen raumgreifenden Bewegungen und seiner Begabung, die verschiedensten Dialekte und Akzente nachzuahmen. Per las das Gedicht noch einmal. Monsungebirge klang irgendwie bekannt. Monsun, das war doch ein Wind, aber es gab ja wohl kein Gebirge dieses Namens? Hingegen gab es ein Schiffsmodell, das Monsun hieß, aber irgendwie passte das nicht. Sein Telefon klingelte, und Per legte das Blatt beiseite.
Im Laufe des Tages hatte er die Verse wieder und wieder gelesen, ohne der Lösung des Rätsels näher zu kommen. Vielleicht sollte er im Internet recherchieren. Seine Söhne hatten ihm mehrmals gezeigt, wie das ging, aber er war mit diesen Suchmaschinen, oder wie die hießen, nie zurechtgekommen. Er bevorzugte richtige Lexika. Das Internet kam ihm unzuverlässig vor, und außerdem funktionierte das mit dem Zugang nicht immer. Computer waren in Pers Welt unberechenbare Dinge. Wenn er das sagte, lachten die Söhne und warfen sich vielsagende Blicke zu. Aber Per wusste jemanden, der zuverlässig und unschlagbar war, wenn es um Allgemeinbildung und Denksport ging. Das war seine Frau Anita. Die Stunden bis zu ihrer Heimkehr hatten sich in die Länge gezogen. Doch nun präsentierte ihr Per die Sache als »verzwickte Angelegenheit«, ohne zu erzählen, worum es ging, was er ja eigentlich selbst nicht genau wusste.
»Lies es noch mal vor, ganz langsam«, sagte Anita, nachdem er ihr den Text vorgetragen hatte.
Per las. Seine Frau verankerte den Blick an der Deckenleiste in der linken Ecke und drehte ihr Rotweinglas in den Händen.
»Neptuns Hügel und Monsungebirg’«, wiederholte sie für sich. Sie kickte die Hausschuhe von den Füßen und legte die Beine auf den neben ihr stehenden Esszimmerstuhl.
»Monsun ist ja ein Wind«, sagte Per. »Neptun ist der Meeresgott. Aber alles andere – was bedeutet das?«
»Neptuns Hügel und Monsungebirg’, es könnte das Meer gemeint sein«, schlug Anita vor.
»Das Meer«, wiederholte Per, »ja, könnte stimmen.«
»Worum geht es?«, fragte sie beim Abräumen des Tischs. Per blieb sitzen und überlegte, was er antworten sollte. Als Anita mit Kaffee und einer Schale Schokoladenstückchen aus der Küche zurückkam, hatte er
Weitere Kostenlose Bücher