Die Tochter des Leuchtturmmeisters
sich entschlossen.
»Ich glaube, dass Karl-Axel einen Ort beschreibt, an dem ein Schatz verborgen ist.«
Zuerst hatte Anita gelacht, aber als sie Pers Miene sah, hielt sie inne.
»Ist das dein Ernst?«
Per nickte und reichte ihr den Brief. In diesem Augenblick war es, als würde etwas geschehen, als ginge eine Tür auf. Viele Jahre waren ins Land gegangen, die Söhne waren erwachsen geworden, und in dem Alltagstrott hatten sich Per und Anita fast aus den Augen verloren. Am heutigen Abend aber redeten sie bis tief in die Nacht, und Per musste den fünfarmigen Silberleuchter mit neuen Kerzen bestücken. Keiner von beiden konnte sich erinnern, wann sie das letzte Mal so zusammengesessen und geredet hatten. Als das frühe Morgenlicht auf den Kai von Marstrandsön fiel, nahmen sie sich in die Arme.
Sara wachte auf. Ihr war, als liefe ihr Körper auf Hochtouren, als wäre sie joggen gewesen und hätte sich noch nicht wiederentspannt. Sie warf einen Blick auf die roten Zahlen des Radioweckers. 03.38. Irgendetwas hatte sie geweckt. Dann hörte sie, dass Markus, der deutsche Journalist, der das Souterrain gemietet hatte, die Haustür schloss. War er erst jetzt heimgekommen? Im März ließ sich mit dem Nachtleben von Marstrand nicht gerade Staat machen und schon gar nicht an Wochentagen.
Noch war Zeit für mehrere Stunden herrlichen Schlafs, sie hatte ihn wahrhaftig nötig. Vor dem Zubettgehen hatte sie extra eine Tablette genommen, weshalb wachte sie dann jetzt auf? Hätte sie zwei nehmen sollen? Tomas schlief tief, atmete ruhig und regelmäßig. Neben ihm lag ihr Sohn auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet. Der Schnuller war ihm aus dem Mund gefallen. Sara hob die Decke an, konnte ihn aber nirgendwo finden. Sie schloss die Augen, legte den Kopf wieder aufs Kissen und bemühte sich, Tomas’ tiefe Atemzüge nachzuahmen. Sie dachte, das könnte sie entspannen, so dass sie wieder einschlafen würde. Na los. Mit ein bisschen Glück blieben ihr noch zwei ganze Stunden, bis Linus und Linnéa ihren Brei wollten.
Wieder schaute sie auf die Uhr. 04.14. Sie schlug die Decke zurück und setzte die Fersen auf den kalten Holzfußboden. Dann fand sie die Hausschuhe und schob die Füße hinein. Linnéa in ihrem Gitterbett wirkte ruhig und friedlich. Die Gedanken wirbelten Sara durch den Kopf. Sie zog den Morgenrock an und verließ das Schlafzimmer. Der Regen schlug gegen die Scheiben der verglasten Veranda, und sie hörte das Geräusch eines Autos mit viel zu laut aufgedrehtem Radio. Der Zeitungsausträger stellte es mitten auf der Straße ab und rannte durch die Dunkelheit und den Regen zu den drei Briefkästen der nächstgelegenen Häuser. Effektiv, dachte Sara, als die Briefkästen klappernd zufielen. Das spart Zeit. Außerdem konnte er gleichzeitig Radio hören.
Auch sie war auf der Arbeit effektiv gewesen, bis ihr Körper nein gesagt hatte, so geht’s nicht länger, und eines Tageseinfach Schluss war. Wie unglaublich effektiv sie gearbeitet hatte, zeigte sich nun, als man ihre Stelle gleich durch drei Konsulenten ersetzte. Seit diesem Zusammenbruch hatte sie langsam, unendlich langsam versucht, ins Leben zurückzukehren. Das Gefühl, ständig getrieben zu sein, wollte einfach nicht verschwinden, obwohl sie nun schon mehr als elf Monate zu Hause war und keine Termine mehr einhalten musste. Die Kinder mussten um neun in der Kita abgeliefert und nachmittags um drei abgeholt werden, ansonsten aber war ihr Kalender leer. Wie schwer kann das schon sein?, dachte sie. Die Antwort aber kannte sie längst. Unendlich schwer.
In ihrem Flanellschlafanzug stand sie mitten auf der Veranda, ohne die Ruhe zu haben, sich irgendwo hinzusetzen. Sie fühlte sich gejagt. Der nur allzu bekannte Druck auf der Brust kam mit solcher Kraft, dass sie in die Knie sackte und nach Luft schnappte. Es tat weh. Sie fühlte sich klein und völlig allein auf der Welt. Die Angst packte sie unbarmherzig und füllte auch die kleinste Zelle aus. Was hat es für einen Sinn?, fragte die. Was hat dein Leben für einen Sinn? Es ist doch total sinnlos. Du wirst sterben, wir sterben schließlich alle. Die Gedanken ließen sich nicht verdrängen, und vor ihrem inneren Blick tauchten Linus, Linnéa und Tomas auf, mit geschlossenen Augen und schlaffen, bleichen Gesichtszügen. Die du am meisten liebst, auch sie werden sterben.
Sara fühlte, dass ihr Magen rebellierte. Sie erhob sich und musste sich an der Wand abstützen, als ihr schwarz vor Augen wurde. Das war
Weitere Kostenlose Bücher