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Die Tochter des Leuchtturmmeisters

Die Tochter des Leuchtturmmeisters

Titel: Die Tochter des Leuchtturmmeisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Rosman
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balancierte auf einer Fußbank neben der Fotosammlung.
    Karin streckte sich in die Höhe, um die Aufnahme abzunehmen, riss aber stattdessen das danebenhängende Foto herunter. Sie konnte es gerade noch auffangen, bevor es auf der Marmorplatte landete.
    »Die Schwestern Elloven« stand auf der Rückseite. Das Foto schien an einem Sommertag aufgenommen und zeigte zwei Frauen in den Dreißigern auf einer Anlegebrücke. Eine von ihnen hockte auf dem Boden, um ein Boot festzumachen, das noch immer die Segel gehisst hatte.
    »Bist du das?«, fragte Karin und erhielt ein Nicken zur Antwort.
    »Bekommst du das Foto herunter?«
    »Hier.« Karin reichte der Frau die andere Aufnahme, und sie gingen in die Küche zurück.
    »Arvid und ich«, sagte Marta. Karin erkannte sie in der Frau auf dem anderen Foto wieder. Der Mann war sportlich gekleidet und hielt einen Spaten in der Hand, sein rechter Arm lag beschützend um Martas Schultern. Anscheinend hatte jemand gerade etwas total Lustiges gesagt, denn beide lachten. Die Herzlichkeit zwischen ihnen war nicht zu übersehen.
    »Das Foto ist hier vor dem Haus gemacht worden, wir waren gerade dabei, den Rosenbusch dort hinten zu pflanzen.« Sie zeigte aus dem Fenster. Erst jetzt bemerkte Karin, dass die Scheiben im Fenster sich wölbten und uneben waren. Hier und da gab es Lufteinschlüsse und, wie es schien, Sandkörner im Glas.
    »Er nannte mich immer Pea, du weißt, das englische Wort für Erbse. Ich war ja auch ungeheuer an Mathematik interessiert, und da passte Pi als Bezeichnung wunderbar.« Karin schaute zu der Zeitschrift auf dem Tisch, die in der Nähe des Fensters bei einem Sudoku aufgeschlagen lag, daneben ein Stift. Ein Kugelschreiber, stellte Karin fest. Sie selbst benutzte immer einen Bleistift, und obendrein bevorzugte sie Kreuzworträtsel.
    »Wart ihr ein Paar?«, fragte Karin.
    Marta lachte.
    »Er wurde mein Bruder«, sagte sie und fuhr dann fort, von dem zu erzählen, was vor langer Zeit geschehen war.
    Martas Stimme klang hohl und war leer von Gefühlen, als sie von der behüteten Welt in der geräumigen Villa berichtete, die in Debrecen, Mester utca 21 gestanden hatte. Von dem schwarzen Flügel, auf dem ihre Mutter immer spielte, dem großen hohen Eichenschrank, in dem man die Geburtstagsgeschenke versteckte, und von Tish, ihrem geliebten zotteligen Hund. Von Cousin Ismael und Cousine Gertrud, die auf Besuch da waren, und dem jüngeren Bruder, der seine neue Spielzeugeisenbahn auf dem dicken Teppich in der Diele fahren ließ. Von dem lauten Hämmern an der Tür und den Stiefeln, die die Treppe mit dem schmiedeeisernen Geländer heraufgepoltert kamen. Die Stimme der Frau veränderte sich, wurde kalt und scharf wie die Klinge eines Schwerts, als sie weitersprach.
    »Es war Tag, aber der Tag war dunkel, verregnet und schwarz. Schwarz wie die Nacht, eine Nacht voller Hoffnungslosigkeit und Menschengeschrei. Das scharfe Knallen von den Pistolen der Deutschen. Kugeln, die jüdischem Leben effektiv ein Ende machten. Nicht einmal da verstanden wir das Ausmaß oder was überhaupt geschah. Schriftsteller, Pianisten, Künstler, Nachbarn, Mütter, Schwestern, Söhne und Väter, alle ohne Unterschied wurden ermordet. Sämtliche Juden der Stadt wurden ins Ghetto umgesiedelt und das jüdische Eigentum wurde konfisziert.« Marta erinnerte sich noch immer, was ihre Mutter beim Ankleiden zum kleinen Bruder gesagt hatte.
    »Soll ich dir lange oder kurze Hosen anziehen? Wenn ich die kurze Hose nehme, werden sie dich als Kind betrachten, und dann darfst du mit mir und deiner Schwester zusammen sein, aber wenn ich dir die lange Hose anziehe, siehst du älter aus, wirst als Mann und Arbeitskraft eingestuft.« Sie zog ihm die lange an. Bei der Ankunft im Lager mussten Vater und Bruder zum Arbeiten weiterfahren, während sie und ihreMutter im Lager blieben. Cousin und Cousine, die beiden Kleinen, wurden zu den Duschen geführt. Marta hatte sie weggehen sehen, Hand in Hand. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter beunruhigt war, sie könnten sich verlieren, und gefragt hatte, ob sie nicht mitgehen und dort warten könnte, bis die Kinder fertig waren. Erst hinterher, als Marta und ihre Mutter Kleidung sortierten, hatten sie Gertruds roten Mantel und ihre roten Schuhe entdeckt.
    Die Frau verstummte, und Karin sah, wie ihre Hände sich bewegten, als nähmen sie etwas hoch und drückten es zärtlich an die Brust. Ihr Blick war schwarz und undurchdringlich. Marta versank in den Erinnerungen, und ein

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