Die Tochter des Leuchtturmmeisters
Abgrund tat sich auf, als sie den deutschen Offizier vor sich sah, der eines Nachts zu ihr gekommen war. Er hatte sich von hinten angeschlichen und ihr die Hand auf den Mund gelegt, damit sie nicht schrie. In der Hand war Brot, und sie hatte so entsetzlichen Hunger. Sie aß und ließ ihn machen, was er wollte. Hinterher entdeckte sie, dass er ihre Mütze gestohlen hatte. Ein Häftling, den man beim Appell ohne Mütze antraf, wurde umgebracht, das hatte der Deutsche gewusst. So würde sie niemandem von dem Übergriff erzählen können.
Sie erinnerte sich, wie kalt es im Morgengrauen war, als sie zusammen mit einer Gruppe älterer Frauen barfuß zum Hinrichtungsplatz ging. Sie erinnerte sich an ihren rasierten Kopf, den Hunger, die Gedanken, die Gleichgültigkeit und die Frage, wo nur Gott geblieben war. Wie durch ein Wunder hatten die Kugeln sie verfehlt. In jener Nacht war sie aus dem Graben gekrochen. Sie hatte die Leichen, die auf sie gefallen waren, fortgeschoben und sich Sachen von den Toten geborgt. Mehr als einmal hatte sie sich gefragt, ob es nicht schlimmer gewesen war, mit all den Erinnerungen überlebt zu haben, als wenn sie gestorben wäre und vielleicht Frieden gefunden hätte.
Da sie im Dunkeln ungewöhnlich gut sehen konnte, war ihr die Flucht gelungen, bei der sie nachts gewandert war undsich am Tag versteckt gehalten hatte. Die Tatsache, dass der deutsche Offizier mehrere Jahrzehnte später unter falschem Namen und ohne sein Opfer wiederzuerkennen in Marstrand aufgetaucht war und dass sie ihn seitdem wachsam im Auge behalten hatte, wusste nur sie allein. »Es gelang mir zu fliehen und schließlich nach London zu kommen, wo mein Vater Geschäftsfreunde hatte«, fuhr Marta fort. »Gilbert Stiernkvist und seine schwedische Frau Alica halfen mir und behandelten mich wie ihre eigene Tochter. Ich wuchs mit Arvid und seinem Bruder Rune auf.«
Marta zeigte auf das Foto. »Als Arvids Familie zurück nach Schweden zog, nahmen sie mich mit. Erst nach Lysekil, Arvids Mutter Alice kam von dort, und dann nach Göteborg. Sie hatten ein Sommerhaus hier in Marstrand. Der Wunsch, anderen zu helfen, war in der Familie stark ausgeprägt, und man versuchte, die Juden auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen, als sie sich bemühten, ihr Geld von den Banken ausgezahlt und ihr im Krieg beschlagnahmtes Eigentum zurückzuerhalten. Das alles war eine langwierige Angelegenheit. Als Arvids Eltern dann zu alt dafür waren, fanden Arvid und ich es ganz natürlich, dass wir ihre Arbeit fortführten. Arvids Bruder war in die Fußstapfen des Vaters getreten und Jurist geworden, während Arvid sich auf Wirtschaftsführung spezialisierte und die Firma übernehmen sollte.«
»Die Firma?«, fragte Karin.
»Sie besaßen einen Familienbetrieb, ein Speditionsunternehmen. Die Unterstützung der Juden war anfangs einfach als gutes Werk gemeint, doch als immer mehr Menschen ihre Hilfe erbaten, nahm das Ganze an Umfang zu. Nach dem Wegzug aus London blieb dort noch eine selbständige Außenstelle zurück, die sich voll und ganz auf die Sache der geflohenen Juden konzentrierte. Hier richtete Arvids Vater Gilbert dann ein weiteres Büro in Göteborg ein. Von da aus lenkte er damals alles. Die Brüder begannen mit dem Vater zusammenzuarbeiten und übernahmen allmählich die Firma.«
Karin hörte zu, aber am Ende musste sie die Frage einfach stellen.
»Und Siri? Wann ist sie ins Spiel gekommen?«
»Siri.« Marta schüttelte den Kopf. »Nie, soviel mir bekannt ist.«
Karin konnte nicht genau sagen, was es war, doch irgendetwas verschwieg ihr die Frau. Wenn man bedachte, was sie alles erlebt hatte, war es vielleicht nicht mehr verwunderlich, dass sie vorsichtig war und nie zu viel preisgab. Nie wusste, wem sie vertrauen konnte. Immer genau nachsah, dass niemand hinter ihr war. Karin konnte sich nicht einmal vorstellen, wie es sein musste, so zu leben.
»Ich habe nur einfach Schwierigkeiten, mir Arvid, so wie du ihn als Person beschreibst, zusammen mit Siri vorzustellen«, sagte Karin. »Deshalb meine Frage.«
»Ich mag sie nicht. Arvid, der Siri heiratet, nicht zu fassen!«, erwiderte Marta kurz.
Karin konnte nicht gut sagen, dass sie Marta bestens verstand, obwohl sie große Lust dazu verspürte.
»Wie haben sich die beiden kennengelernt?«, fragte sie stattdessen.
»Sie wurde als Sekretärin beim Juristen der Firma eingestellt. Rotgeschminkte Lippen und Stöckelschuhe. Weder in Stenographie noch an der Schreibmaschine besonders gut,
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