Die Tochter des Leuchtturmmeisters
Sie liebkoste die schöne Kontur seines Amorbogens. Dann holte er Luft und atmete zum letzten Mal aus. Sanft und still. Sie erinnerte sich, dass er gesagt hatte, mit ihr zusammen sei ihm, als könne er ausatmen und brauche nie wieder einzuatmen. Das war damals, als sie sich das erste Mal bei »Bräutigams« getroffen hatten. Ein weicher Tritt kam von innen, als wollte auch das Kind dort drinnen Abschied nehmen.
Der Arzt, den sie gerufen hatten, konnte nichts tun, außer zu warnen. Vor den dunklen Kräften, über die viele Bescheid wussten, aber nur wenige sprachen. Wenn diese Kräfte sich an einer hochgeachteten Person wie Arvid Stiernkvist vergreifen konnten, was würden sie dann erst mit ihr tun. Im Augenblick galten beide als vermisst. Erling, der Arzt, ein guter Freund ihres Bruders, meinte, Elin hätte dadurch eine Wahl. Nur wenige wussten, dass sie nicht nur Arvids Begleitung war, sondern seine Seelenverwandte und Frau, und dass ihr gemeinsames Kind in ihrem Leib heranwuchs.
Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihr schien, als würde ihr Herz vor Qual zerspringen, als sie ihm den Schal um den Hals band und ihm die Decke bis unters Kinn zog, damit er nicht zu frieren brauchte. Erling nahm ihre Hand in die seine und versprach, die Ereignisse des Tages für sich zu behalten. Was er niemandem sagte, war, dass er ein paar Proben zur Analyse mitnahm. Wenn schon nicht anders, wollte er die Todesursache wenigstens für sich selbst feststellen. Er ahnte damals wohl kaum, wie sehr seine Analysen ihm viel später von Nutzen sein würden.
Die Männer an der Tür warteten auf sie. Es war höchste Zeit zu gehen. Sie drehte sich ein letztes Mal um und winkte. Sie brachte es nicht fertig, Lebewohl zu sagen, sondern flüsterte: »Wir sehen uns bald wieder, und bis dahin werde ich jede einzelne Minute zählen.«
15.
Der rasche Temperaturwechsel der Nacht hatte für dichten Nebel gesorgt, der die gesamte Westküste während der Morgenstunden einhüllte. So war es häufig im Frühjahr, bevor das Wasser sich erwärmte. Alle Geräusche und alles Licht wurden von der feuchten, weißen Waschküche absorbiert. Es schien, als wären all die kleinen Holzhäuser in dicke Decken gewickelt, so wie man zerbrechliche Gläser sorgfältig in Seidenpapier hüllt, um sie für den Umzug zu verpacken. Obwohl der Sund zwischen Koön und Marstrandsön nur schmal war, konnte man von der einen Seite nicht zur anderen blicken.
Siri betrachtete erstaunt den jungen Mann, der die Haustür von Per und Anita für sie beide aufhielt. Verschwunden war der Bauleiter in Arbeitskleidung. Vor ihr stand ein frischrasierter, braungebrannter Mann in blauem Hugo-Boss-Hemd. Er duftete frisch nach Seife. Roland nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in dem braunen Flurschrank auf einen Bügel. Per und Waldemar saßen bereits am Tisch, als Siri und Roland hereinkamen. Roland zog einen Stuhl für sie zurück, und als sie sich setzte, schob er ihn wieder an den Tisch. Dann nahm er ihr gegenüber Platz und zog das Gummiband von der Rolle mit den Bauplänen.
»Willkommen, wirklich schön, euch alle zu sehen«, sagte Per. »Ja, Roland, am besten fängst du gleich an.«
Rolands Hände bewegten sich über die Zeichnungen von den Wohnhäusern und Nebengebäuden auf Pater Noster.
Sie mussten einen Beschluss fassen, wie sie weiter vorgehen sollten. Der Fund im Vorratskeller und die Anwesenheit der Polizei auf der Insel hatten die Arbeit um schätzungsweise zwei Wochen verzögert. Roland war die Pläne durchgegangen,um zu sehen, was noch an Arbeit zu erledigen war. Er breitete ein neues Papier auf den Zeichnungen aus. Es war ein Ablaufdiagramm, das zeigte, was noch zu tun war und in welcher Reihenfolge die Arbeiten erfolgen mussten. Man würde die Männer bestimmt dazu bringen, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, wenn er die Wochenenden nutzen und sich zwei Schweden als Ersatz für die beiden heimgefahrenen Polen aussuchen konnte. Per nickte, das war eine gute Idee.
Das Treffen hatte sich in die Länge gezogen, aber das war egal. Siri fühlte sich in Rolands Anwesenheit wohl, das musste sie sich letztlich eingestehen. Er wirkte so stark. Ihre Blicke trafen sich eine Sekunde zu lange, bevor Siri die Augen senkte.
Anita nahm an dem Treffen nicht teil. Ihr Urteil über Siri und Waldemar stand seit langem fest, und sie wollte nicht mehr als nötig mit ihnen zu tun haben. Siri hatte Anita stolz berichtet, dass sie ihrer Tochter eine Brustoperation bezahlt hatte, denn
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