Die Tochter des Magiers 01 - Die Diebin
misstönendes Geräusch – es war ein schweres Schleifen, so durchdringend, dass der ganze Berg zu beben schien – und die steinerne Platte rutschte auf ihren Platz. Maru schluckte. Wie hatte Tasil gesagt? Man würde ein ganzes Heer brauchen, um die Steinplatte noch einmal zu bewegen. Sie hatte kein Heer, sie hatte nur Tasil, der im Geheimgang saß und hoffentlich darauf vorbereitet war, sie herauszuholen. Eine heftige Woge der Angst packte sie. Was, wenn nicht? Was, wenn er die Mauer nicht durchbrechen konnte? Was, wenn der Spalt im Fels doch zu schmal war?
Die Steinplatte erreichte donnernd ihren vorbestimmten Platz. Eine Erschütterung durchlief die Kammer. Das Grab war geschlossen, Maru gefangen.
Mit zitternden Fingern schlug Maru den Feuerstein gegen ihren Dolch. Der Funken fraß sich in den Zunder, und ein kleines Licht leuchtete auf. Sie entzündete die Kerze und atmete auf. Das war besser, viel besser. Jetzt musste sie sich beeilen. Tasil erwartete, dass alles bereitlag, wenn die Mauer geöffnet war. Je schneller, desto besser. Umso eher würde sie hier wieder herauskommen. Als Maru Inannas Grabkammer verließ, sah sie, dass in der Nähe des Eingangs noch Licht war. Offenbar brannten hinter der Biegung noch Fackeln. Sie lief hin und fand deren zwei. Sie blies die Kerze aus, nahm beide Fackeln aus der Halterung, löschte eine, indem sie sie auf dem Boden ausdrückte, steckte sie in ihren Gürtel und lief mit der anderen den Gang hinauf. An der Abzweigung zur Kammer mit den Pfützen blieb sie stehen.
»Utukku?«, rief sie leise.
Es kam keine Antwort. Sie zuckte mit den Schultern. Umso besser, dachte sie und lief weiter. Sie war jetzt selbst gespannt, welche Schätze die Serkesch ihrem Raik mitgegeben haben mochten. Sie erreichte die beiden Hauptkammern der Grabanlage, lief an dem fremdartigen Tonkoloss vorbei und blieb stehen. Das Licht ihrer Fackel wurde von einem vielfachen Blinken aus Utus Kammer erwidert.
Maru trat ehrfürchtig näher. Da lag der Raik, aufgebahrt auf einem großen steinernen Sockel. Er war in edle Stoffe gehüllt wie seine Frauen, und eine silberne Maske bedeckte sein Gesicht. Darüber erstrahlte ein fein gearbeiteter Stirnreif. An seiner Seite war eine Rüstung aufgestellt. Armschienen und Beinschienen, ein Brustpanzer, alles aus kostbarem Eisen und Silber, mit bronzenen Linien verziert. Außerdem ein silberner Helm mit einem Rosshaarschweif und ein großer silberbeschlagener Schild. Die Arme des Toten kreuzten sich über der Brust, und in den Händen hielt Utu einen kurzen silbernen Stab und ein eisernes Schwert. Hinter seinem Sockel standen kunstvoll verzierte Speere in einem Holzgestell,
daneben lag eine ganze Reihe von Schmuckdolchen. Jedes einzelne Stück musste unermesslich wertvoll sein.
Als Maru noch einen Schritt näher trat, spürte sie etwas, eine Art unsichtbaren Widerstand. War da wirklich ein warmer Windhauch? Ihre Nackenhaare stellten sich auf, kein gutes Zeichen. Ein leises, leidendes Stöhnen erklang hinter ihr.
Mit weit aufgerissenen Augen drehte sich Maru langsam um.
Die Tonstatue! Aus ihrem lippenlosen Mund kam dieser Seufzer. Im nächsten Augenblick stand sie auf. Maru packte das Grauen. Diese Figur ohne Gesicht, dieser leblose Klumpen Ton bewegte sich! Und er hatte ein Schwert. Langsam setzte die Statue einen Fuß auf den Boden. Maru blieb stocksteif stehen, während der Koloss sich ihr zuwandte. Obwohl er keine Augen hatte, schien er sie anzusehen. Da holte er mit dem Schwert aus.
Maru sprang zurück. Funken stoben, die Klinge prallte gegen die Wand. Das war knapp gewesen. Der Koloss sah schwerfällig aus, aber der Schlag war schnell – und der nächste war noch schneller!
Maru floh in die Kammer des Raik. Sie hatte die aberwitzige Hoffnung, dass der tönerne Krieger sie nicht dorthinein verfolgen würde. Doch der Koloss stöhnte und folgte ihr. Sein Schwert schnitt durch die Luft. Es war so nah, dass Maru den Luftzug spüren konnte. Sie hetzte hinter den steinernen Sockel, auf dem der Raik ruhte. Irgendetwas gab ihr das Gefühl, dass dieses Ding in der Kammer des Raik vorsichtig sein würde.
Der Koloss schwang das Sichelschwert und verfehlte Maru erneut nur knapp. Er seufzte. Jetzt klang es eher wütend als leidend. Maru wich weiter zurück, und er folgte ihr. Achtlos trampelte er über Barren aus Eisen und Silber. Der Tonkrieger musste um den Sockel herumgehen, um sie zu erreichen. Als er den Sockel am Fußende umging, rannte Maru los. Sie lief
Weitere Kostenlose Bücher