Die Tochter des Magiers 01 - Die Diebin
verstanden?«
»Ja, Onkel«, sagte Maru matt.
Es roch seltsam süßlich. Maru hoffte, dass das nur der Schimmel war. Sie sah sich noch einmal um. Direkt vor ihr lag dieses kleine Stoffbündel, das einmal die Frau des Raik gewesen war. Sie war seit vielen Jahren tot. Sie saß jetzt in Ud-Sror und wartete auf ihren Gatten, der in wenigen Stunden seine letzte Reise antreten würde. Ihre Ruhestätte war reicher geschmückt als jeder Raum, den Maru bislang gesehen hatte, die Kammern im Bet Raik von Serkesch eingeschlossen. Hatte sie etwas davon in der Totenstadt? Ihr Mann schien ihr sehr zugetan gewesen zu sein, sie war mit Opfergaben geradezu überhäuft worden. Es sollte ihr im nächsten Leben wohl an nichts fehlen. Aber wenn sie es mitgenommen hatte, warum war es dann noch da?
»Sieht doch gemütlich aus«, sagte Tasil mit einem Wolfsgrinsen, aber dann wurde er ernst und schaute Maru tief in die Augen. »Du schaffst das, ich weiß es. Du musst einfach nur die Ruhe bewahren. Dann wird alles gut.«
Er drückte Maru Feuerstein und Zunder in die Rechte. Dann feuchtete er Daumen und Zeigefinger an und löschte die Kerze in ihrer linken Hand. Von einem Augenblick auf den anderen wurde es stockfinster.
»Nicht vergessen, erst wieder entzünden, wenn das Grab verschlossen ist«, erklang Tasils Stimme in der Dunkelheit. Maru
hörte ihn davongehen. Er erreichte den Gang, seine Schritte wurden leiser. Dann war es still. Sie war mit den Toten allein.
Maru seufzte, dann setzte sie sich, wo sie stand, auf den Boden. Es musste wohl sein. Die Dunkelheit umhüllte sie. Sie zog die Beine an, umschlang die Knie mit den Armen und wartete. Tasil hatte gesagt, die Akkesch würden bald nach Sonnenaufgang mit der Beisetzung beginnen. Wie lange mochte es bis dahin noch sein? Sie war müde. Der kurze Schlaf an der Pforte hatte nicht viel geholfen. Sie legte den Kopf auf die Knie. Es wäre angenehm, sich einfach hinzulegen und – erschrocken riss sie die Augen auf. Sie durfte auf keinen Fall einschlafen!
Sie streckte die Beine aus. Kurz dachte sie daran, auf und ab zu gehen, aber sie fürchtete, in dieser Finsternis über irgendetwas zu stolpern. Sie setzte sich in den Schneidersitz – das war unbequem und würde sie wach halten – und lauschte. Es war nicht so völlig ruhig, wie sie zuerst gedacht hatte. Wind drang in die Grabkammer ein, nur ein Hauch, der sich hinter den ersten Biegungen des Ganges völlig verlor. Er war fast nicht zu bemerken. Irgendwo tropfte Wasser. In dieser düsteren Stille wirkte der Klang der auftreffenden Tropfen ohrenbetäubend. Sie war nicht allzu weit von der unfertigen Kammer mit den Pfützen entfernt. Das Geräusch kam von dort. Maru konnte nach einer Weile hören, dass es dort an zwei Stellen in regelmäßigen Abständen tropfte. Es tropfte einmal hell und einmal ein wenig dunkler. Die Abstände bei den dunklen Tropfen waren etwas größer. Maru zählte mit. Wenn der dritte dunkle Tropfen fiel, fiel fast gleichzeitig der vierte helle.
Maru zählte immer wieder von neuem, das lenkte sie ab. Denn jetzt, in der Dunkelheit, stiegen die Erinnerungen der vergangenen zwei Tage wieder empor. Der Maghai, Atib, die Sklaven in der Grube. Sie verzählte sich. Waren sie wirklich bei lebendigem Leibe ertränkt worden – oder erstickt? Wie hieß es, wenn man im Treibsand
versank? Sie zählte von neuem. Hell, dunkel, hell, dunkel, hell, dunkel-hell. Es war kein Wunder, dass sie so traurig und verloren ausgesehen hatten. Maru lief ein Schauer über den Rücken: Sie war doch am Morgen noch selbst in dieser Grube gewesen. Sie schüttelte den Gedanken ab und achtete auf den Rhythmus der Tropfen. Hell, dunkel, hell, dunkel … Muqtaq. Er war zu ihren Füßen gestorben, und es war ihre Schuld.
Nein, war es nicht!, dachte sie trotzig. Sie hatte versucht, ihn davon abzuhalten. Aber er war zu allem entschlossen gewesen. Hell, dunkel, hell, dunkel, hell, dunkel-hell. Tasil war schuld oder eigentlich Iddin, der hatte Tasil schließlich den Auftrag gegeben. Und jetzt war Malk Iddin tot. So wie Ebu und Ech, die stolzen Söhne des Yamans. Hell, dunkel, hell... hell, dunkel-hell. Marus Gedanken stockten. Sie lauschte. Hell, dunkel, hell, dunkel, hell, dunkel-hell. Aber hatte da eben nicht ein Tropfen gefehlt? Ihr wurde kalt, die Angst kehrte zurück. Sie starrte in die Dunkelheit. War sie wirklich allein? Sie griff nach Zunder und Feuerstein.
Es war nur ein Tropfen, sagte sie sich, das hat nichts zu bedeuten.
Sollte sie es
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