Die Tochter des Magiers 01 - Die Diebin
schwieg einen langen Augenblick, dann rief er: »Mögen Strydh und die Hüter Raik Utu-Hegasch gut nach Ud-Sror geleiten, und möge Uo ihn fürstlich bewirten. Dies erflehe ich von den Erstgeborenen.«
»Dies erflehen wir«, rief die Menge. Und hinter Maru raunte dieselbe Stimme wie eben: »Er hat Strydh vor den Hütern angerufen, hast du gehört?«
Malk Numur breitete die Hände in einer Geste der Einladung aus. »Volk von Serkesch, ich danke für die guten Gebete und Wünsche. Ich weiß, was ihr fürchtet. Ihr habt gehört, dass Uneinigkeit herrscht zwischen mir und meinem Bruder Iddin.«
Er sprach sehr schnell, und seine Stimme war hoch und dünn, Maru fand sie sogar ein wenig schrill.
»Doch das ist nicht so«, fuhr der Malk fort, »wir sind einander zugetan, wie Brüder es sein sollten, und nichts als Liebe ist zwischen uns! Ich weiß, er ist in Gedanken jetzt bei mir und bei euch, so wie ich in Gedanken bei ihm und dem Leib meines Vaters bin, dem er, gemäß unserem Gesetz, die Ehre der Totenwache erweist. Das Recht, dieses als Erster zu tun, hat er, denn er ist der Ältere – und wer bin ich, ihm dieses Recht streitig zu machen?«
Die Menge lauschte gebannt. Und wieder war es die Stimme hinter Maru, die flüsterte: »Er erkennt Iddin als den Älteren an? Das gibt es doch nicht!«
Der Malk lächelte, als er weitersprach. »Ich weiß, dass manche unter euch erwarten, dass ich auf meine Rechte auch in anderer Hinsicht verzichte.«
Die Menge hielt den Atem an. Im Opferfeuer knackte ein Ast.
»Doch wisset«, fuhr der Malk fort, »dass auch das Recht dieser Erklärung zuerst meinem Bruder zusteht, denn er ist der Ältere
unter uns Gleichgeborenen. Ich werde auch dieses Recht nicht bestreiten.«
Ein Seufzer der Enttäuschung lief durch die dicht gedrängten Reihen. Das war nicht, was sie zu hören gehofft hatten.
»Und noch etwas habe ich zu verkünden, Volk von Serkesch.« Der Malk wartete, bis er sich der Aufmerksamkeit des ganzen Platzes sicher war.
In diesem Augenblick tauchten in einem schmalen Nebeneingang des Palastes zwei Männer auf. Sie hatten Ort und Zeitpunkt gut gewählt, niemand schenkte ihnen Beachtung, niemand außer Tasil. Er stieß Maru wieder in die Rippen und machte sie auf die beiden Gestalten aufmerksam. Sie trugen beide lange, schmale Leinenbündel unter dem Arm. Auf den ersten Blick konnte man sie für zwei Arbeiter halten. Sie nahmen den Weg zur Stadt hinunter.
»Siehst du, es geht los«, meinte Tasil
»Wir haben heute die Nachricht erhalten«, setzte der Malk seine Rede endlich fort, »dass morgen zur Zeit des Mittags Immit Schaduk aus Ulbai hier eintreffen wird.« Maru erkannte, dass der Malk mit »wir« sicher nicht die Hohepriester der Hüter meinte. Sie wirkten sehr überrascht. »Der Immit wird nicht nur kommen, um mit uns zu trauern und mit uns Abschied zu nehmen von unserem geliebten Vater. Er ist bekannt für seine Weisheit, und der Segen des Kaidhan reist mit ihm. Sein Rat wird in dieser Angelegenheit von unschätzbarem Wert sein. Erbitten wir für seine Reise den Segen der Hüter.«
»Wir erflehen den Segen der Hüter«, riefen hunderte Kehlen. Es klang aufrichtig.
»Von Wert, was meint er – wird er sich dem Beschluss beugen, oder nicht?«, raunte es hinter Maru und Tasil.
Tasil beugte sich zu Maru hinüber. »Weißt du es?«
Maru wusste es nicht.
»Du musst besser aufpassen. Die Antwort ist vor wenigen Augenblicken aus jener schmalen Tür getreten.«
Maru wollte etwas erwidern, doch Tasil gebot ihr mit einer knappen Geste zu schweigen. Er wurde unruhig. Offenbar hatte er noch etwas entdeckt, was ihr entgangen war. Sie versuchte, seinen schnellen Blicken zu folgen und bemerkte, dass der Hohepriester Bronds irgendjemanden auf dem Platz zu suchen schien.
Tasil stand auf, um besser sehen zu können. Dann stieß er Maru, die ebenfalls aufgestanden war, zum dritten Mal in die Rippen. Offenbar hatte er gefunden, was der Priester gesucht hatte. Und Maru sah es jetzt auch. Es war ein gefiederter Stab, der aus der Menge herausragte. Tasil runzelte die Stirn. Der Stab bewegte sich Richtung Tor. Maru fiel auf, dass sich die Menschenmenge vor dem Träger des Stabes teilte. Sie hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, aber sie sah Tasils Lächeln, das dem eines Wolfes glich. Irgendetwas Wichtiges musste gerade passiert sein.
Am Opferfeuer ergriff jetzt wieder der Hohepriester Fahs’ das Wort. »Söhne und Töchter von Serkesch, geliebte Kinder von Raik Utu-Hegasch,
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