Die Tochter des Magiers 01 - Die Diebin
gewartet. Seit Biredh daraus ein Rätsel gemacht hatte, hatte sie sich erfolglos das Hirn zermartert. Sie sah die Menschenmenge, die Krieger, die Priester, den Malk, und sie spürte die ungeheure Anspannung, die über allem lag. Plötzlich wusste sie es: »Ja, es bedeutet, dass vorher etwas passieren wird.«
Tasil hob anerkennend eine Augenbraue, aber dann runzelte er die Stirn und sagte nur: »Gut geraten, Maru.«
Auf der Terrasse vor dem Palast war inzwischen in einer großen, bronzenen Schale ein Opferfeuer entfacht worden. Die Priester
der Hüter traten einer nach dem anderen an die Flammen heran, warfen Palmenzweige hinein und flehten dann lautstark zu ihrem Gott, er möge den Raik wohlbehalten nach Ud-Sror geleiten. Eine Bitte, die von der Menge immer mit einem lauten »Wir erflehen es!« begleitet wurde. Viermal wiederholte sich dieser Vorgang, dann trat der Priester Strydhs nach vorne.
Auch er verbrannte einen Zweig in der Lohe, dann trat er einen weiteren Schritt auf die Menge zu und rief: »Strydh, Herr der Axt, auch ich erbitte dein Geleit für Raik Utu-Hegasch. Lass Gnade vor Recht ergehen, auf dass er seinen Platz in Ud-Sror finde!« Die schon viermal gerufene, immer gleiche Antwort erstarb der Menge auf den Lippen. Maru sah die Entrüstung bei den anderen Priestern. Der von Alwa schien nach vorne drängen zu wollen, doch der Hohepriester Bronds hielt ihn zurück. Strydhs Diener fuhr fort, und seine heisere Stimme hallte wider von den Tempelmauern. »In seiner Jugend war Utu fürwahr ein tapferer Krieger, vergib ihm die Schwäche seiner späteren Jahre!«
Totenstille legte sich über den Platz. Die Serkesch sahen einander an, so als könnten sie nicht glauben, was sie eben gehört hatten.
Der Priester fuhr fort, und sein einäugiger Blick wanderte voller Verachtung über den Platz. »Vergib auch den Bewohnern der Stadt Serkesch, die die Hüter so oft um Frieden baten. Zürne ihnen nicht, denn wie soll die Herde den Weg finden, wenn der Hirte sie in die falsche Richtung führt?« Er machte eine Pause, die schwer auf der Menge lastete. »Ich habe es gehört, das Lachen in den Städten der Budinier und über den Zelten der Hakul. Sie lachen über uns und unsere Schwäche. Unsere Äxte sind stumpf, doch es sind nicht die Spuren des Kampfes, die ihre Klingen schartig werden ließen. Hilf deinen unwürdigen Dienern, Strydh, aus diesen Lämmern wieder Wölfe zu machen. Schärfe die Schwerter, stärke unseren Mut! Wir sind bereit, dir
unser Blut zu opfern – und lieber opfern wir es vor der Tür unserer Feinde als vor unserer eigenen! Ist es nicht so, Söhne von Serkesch?«
Einzelne Rufe antworteten, doch Maru war sich nicht sicher, ob sie Zustimmung oder Entsetzen bedeuteten. Tasil stieß ihr plötzlich mit dem Ellbogen in die Rippen. »Gaffe nicht blöd in die Menge, achte auf die Priester, den Malk, die Krieger«, raunte er ihr ins Ohr.
Sie verstand zunächst nicht, was er meinte. Sie folgte seinen Blicken, die unruhig über den Platz wanderten, und dann bemerkte sie es selbst: Sie sah die versteinerten Mienen der anderen Priester – doch der Malk wirkte nicht im Mindesten überrascht.
Scheinbar völlig unberührt folgte er der Rede des Priesters, dessen gellende Stimme von den Tempelmauern widerhallte. »Wir erbitten deine Hilfe, Strydh, hilf uns und hilf dem künftigen Raik der Stadt, wer immer es sein möge, unsere Waffen wieder zu deinem Ruhm in dem Blut unserer Feinde zu tränken! Wir erflehen deinen Segen, Strydh!«
»Wir erflehen ihn«, antworteten viele Stimmen. Es waren nicht alle, aber doch weit mehr als noch vor wenigen Augenblicken.
Tasil schnaubte verächtlich. »Diese Schafe«, murmelte er.
Maru ahnte, was er meinte, doch sie hatte das Gefühl, dass die Sache noch nicht entschieden war. Die Zustimmung der Menge war halbherzig. Dann wusste sie, was die Menschen zögern ließ. Es war nur einer der Malk anwesend. Es war sehr offensichtlich, und sie hörte, wie ein Mann hinter ihr seinem Nachbarn zuraunte: »Abeq Mahas und Malk Numur so offen, wer hätte das gedacht?«
Die Menge blickte wie gebannt auf den Priester Strydhs, der mit erhobenen Armen den Segen seines Gottes erflehte. Aber Maru sah, wie der Malk mit einem seiner Diener sprach, der daraufhin in den Palast eilte. Sie bemerkte, dass der Priester mit Numur einen kurzen Blick austauschte und der Malk leicht nickte.
Der Malk erhob sich jetzt, um seinerseits an die Opferschale zu treten. Auch er warf einen Zweig hinein. Er
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