Die Tochter des Magiers 01 - Die Diebin
Feldes liegen. Dann verblasste das Bild, obwohl Maru versuchte, es festzuhalten. Sie wollte das Gesicht der Frau sehen, aber sie konnte den Kopf nicht drehen.
Maru schlug die Augen auf. Jalis saß auf seinem Wolfsfell und sah sie nachdenklich an. Sie wusste nicht, wo sie war. War sie nicht eben noch barfuß über ein Feld gestolpert? Und jetzt diese kalten Mauern?
»Es kann eine Weile dauern, Maru Nehis, deine Seele muss den Weg noch einmal gehen, bevor sie wieder ganz bei dir ist.«
Maru schloss die Augen und versuchte, das letzte Bild zurückzurufen. Da war fast nichts mehr, nur ein blinkendes Schmuckstück. »Es war eine Schlange. Sie war aus Bronze.« Sie war zurück im kalten Hier und Jetzt. Die Bilder der Erinnerung verschwanden
»Ich habe sie auch gesehen, Maru Nehis.«
»Da war ein Mann, er hat etwas gesagt.«
»Ich habe ihn gehört, doch leider ebenso wenig verstanden wie du.«
»War das mein Vater, Herr?«
»Die Schlange ist ein sehr altes Zeichen, Maru Nehis.«
Maru runzelte die Stirn. Wich der Maghai der Frage aus? »Was bedeutet das, Herr?«
Jalis lächelte auf eine seltsam traurige Art. »Es ist wohl wenig sinnvoll, das Offensichtliche zu leugnen, Maru Nehis. Deine Mutter oder dein Vater, zumindest einer von beiden, war vom alten Volk der Dhanier. Und die Schlange deutet darauf hin, dass dort vielleicht ein Maghai war.«
Maru hatte das Gefühl, dass sich der Boden unter ihr öffnete.
»Mein Vater war ein Maghai?«
»Das habe ich nicht gesagt! Es war Schmuck, und vielleicht gehörte
er deiner Mutter, auch wenn das seltsam wäre. Kein Dhanier würde sich anmaßen, eine Schlange zu tragen. Aber das andere … Nein, es ist undenkbar!«
Maru war kaum in der Lage, das aufzunehmen, was Jalis sagte. Tausend wilde Gedanken tosten in ihr. Bis eben hatte sie keinerlei Erinnerung an ihre Eltern gehabt. Jetzt waren da ein Geruch und eine Stimme. Vertraut und zugleich fremd. Und Bilder, die sie nicht greifen konnte.
»Wir Maghai, Maru Nehis, sind Einzelgänger. Das waren wir stets, schon als wir noch die Herren des Landes waren und uns die Kydhier und Budinier noch nicht besiegt und in die Sümpfe getrieben hatten. Ein Maghai lebt immer ohne Weib, und er zeugt niemals Kinder. Das ist unser Gesetz. Einsamkeit ist der Preis, den wir für unsere Gabe zahlen. Doch ist das angemessen, denn wie könnte ein Maghai der Versuchung widerstehen, das eigene Kind ebenfalls in den geheimen Künsten zu unterweisen – gleich ob es begabt oder ungeeignet, ob es guten oder bösen Geistes ist? Nein, keine Familie. Stattdessen nimmt ein jeder von uns von Zeit zu Zeit einen Knaben unter seine Fittiche, bei dem er die Begabung und gute Anlagen spürt, und bildet ihn aus.«
Maru sah den Maghai an und versuchte zu verstehen, was er sagte. Es fiel ihr schwer, seinen Ausführungen zu folgen. Sie hörte ihn, aber da war auch die Stimme ihres Vaters, die sie nicht verstanden hatte. Und da war der Geruch ihrer Mutter.
Jalis fuhr fort. »Du hast vielleicht die Geschichten über uns gehört – dass wir um die Dörfer schleichen und Kinder stehlen.«
Maru nickte. Damit hatten die Budinier die Kinder erschreckt, die nicht hören wollten: Wenn du nicht brav bist, kommt der schwarze Maghai und holt dich.
»Das sind keine Ammenmärchen, Maru Nehis.«
Maru riss die Augen auf. »Ihr raubt Kinder?«
»Unsere Fähigkeiten sind Gaben der Götter, sie sind ein Geschenk
und eine Verpflichtung. Wenn ich also in einem Dorf oder einer Stadt ein Kind finde, das eine starke Begabung hat, dann … hole ich es.«
»Aber warum fragst du nicht seine Eltern? Wer würde es denn wagen, einem Maghai einen Wunsch abzuschlagen?«
»Nein, das Band zwischen Eltern und Kind muss vollständig zerschnitten sein. Nur so kann es ein starker Maghai werden. Am besten ist, es weiß nicht einmal, dass es Eltern hat.«
»Und du meinst, ich wurde ebenfalls geraubt?«
Jalis lachte laut auf. »Nein, sicher nicht, Maru Nehis. Kein Maghai mit Verstand würde ein Mädchen holen. In unserer Bruderschaft findest du nur Männer, denn unsere Kunst ist einzig und allein den Männern vorbehalten.«
»Haben Mädchen diese Begabung denn nicht?«
»Oh, es kommt vor, selten und auf eine andere Art. Die Kräuterfrauen sind das, was einem weiblichen Maghai am nächsten kommt. Sie verstehen sich auf die Erde, die Pflanzen und auf das Heilen. Doch sie schrecken vor den schwierigen und manchmal gefährlichen Künsten unserer Bruderschaft zurück.«
Maru war beinahe ein
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