Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
davon aus, dass er ihr hier auflauern würde. Der Daimon hatte sich seit dem Vortag nicht mehr gezeigt. Bei ihren Fahrten über den Fluss war sie nicht alleine gewesen, das hatte ihn vielleicht abgeschreckt, aber jetzt war sie so allein, wie sie es in dieser Stadt und in diesem Haus nur sein konnte. Sie lief in ihr Zimmer. Fliegen surrten durch die Kammer. Es lag eine ungewisse Spannung in der Luft. War das nur die Unruhe, die aus den Gassen durch die schmalen Fenster wehte? Oder war der Daimon in der Nähe? Sie hatte etwas zu erledigen, nur eine Kleinigkeit, eine Sache von einigen Augenblicken, aber sie zögerte. Es wäre nicht gut, wenn der Daimon sie dabei erwischte. Die Fliegen summten, aber Utukku erschien nicht. Spielte er mit ihr? Oder war er wirklich nicht in der Nähe? Er hatte ihr bei seinem letzten Besuch nicht einmal gedroht. Das konnte einfach nichts Gutes bedeuten. Sie seufzte. Es wäre ihr jetzt beinahe lieber gewesen, er hätte sich gezeigt, einfach, damit sie es hinter sich hatte. Aber nichts geschah. Schließlich bückte sie sich und zog den Beutel mit ihren Habseligkeiten unter der Schlafstatt hervor. Sie griff hinein und nahm die graue Decke heraus, die einst Dwailis gehört hatte. Sie war beinahe das Einzige gewesen, was sie bei ihrer Flucht aus
dem Isberfenn noch besessen hatte. Alt war sie und an mehreren Stellen geflickt, aber es gab einen sehr guten Grund für Maru, sie nicht wegzugeben. Sie nahm ihren Dolch zur Hand und trennte die Naht eines Flickens auf. Etwas fiel hinaus. Es war rund, eine kleine Scheibe mit einem Loch in der Mitte. Sie war aus Gold. Die kleine Lathe hatte sie ihr geschenkt, damals in Dwailis’ Hütte. Sie lächelte, als sie an die Schwester Remas dachte. Der Edaling hatte sie der Awathani opfern wollen. Doch das hatten sie verhindern können. Wie lange war das jetzt her? Erst ein halbes Jahr? So unfassbar viel war seither geschehen. Sie wog das Stück Gold in der Hand. Es war nicht einfach gewesen, dieses wertvolle Stück Erz vor Tasil verborgen zu halten. Sie hatten auf ihrer Flucht nichts besessen und hätten gut etwas Silber oder gar Gold gebrauchen können. Aber sie hätte dieses Stück nie hergegeben, nicht für alle Schätze der Welt. Doch jetzt brauchte sie es, und sie war sicher, Lathe würde das verstehen. Sie steckte es ein und lief zurück in die Küche.
»Weißt du, mein Freund, wirklich, du solltest schreiben lernen. Hast du nie daran gedacht?« Offenbar hielt Temu Yalu einen Vortrag über die Vorzüge seiner Kunst, und er war damit so beschäftigt, dass er sein Essen kaum angerührt hatte. Yalu starrte den Schreiber beeindruckt an. Natürlich, wenn er schreiben könnte, wäre manches einfacher für ihn, dachte Maru. Vorausgesetzt, er hatte mit Menschen zu tun, die selbst lesen und schreiben konnten, schränkte sie in Gedanken gleich wieder ein. Schreiben war eine schwere Kunst. Die Akkesch hatten hunderte Zeichen, und alle sahen sich so ähnlich. Ihre Kinder, denen erlaubt war, Schreiber oder Verwalter zu werden, brauchten viele Jahre, um sie zu erlernen. Maru war sich auch gar nicht sicher, ob es Sklaven überhaupt gestattet war, Schreiben zu lernen. Aber wenn der Stumme wenigstens die wichtigsten Zeichen beherrschte, würde das sicher nicht schaden.
»Ich bin sicher, Yalu wäre ein guter Schüler, Temu. Vielleicht kannst du ihm das eine oder andere beibringen«, sagte sie.
Yalu sah sie überrascht an.
»Ich?«, fragte Temu überrumpelt.
»Wer sonst, ich vielleicht?«, fragte Maru lächelnd. »Doch jetzt komm, wir haben etwas zu erledigen.«
»Oh, ich habe noch nicht zu Ende gegessen«, stellte der Schreiber betrübt fest.
»Wir sind wirklich in Eile«, drängte Maru. Und das waren sie. Es war bereits Mittag. Am Abend würde Tasil versuchen, sich das Lösegeld der Stadt unter den Nagel zu reißen, dessen war sie sich inzwischen sicher, auch wenn sie immer noch nicht wusste, wie er dieses Kunststück vollbringen wollte. Ihr war aber klar geworden, dass sie danach wohl nicht mehr in die Stadt zurück konnten, und das hieß wiederum, sie musste für die Begegnung mit Utukku bereit sein, bevor der Immit mit dem Schatz zum Fluss hinunterging.
»Und wohin jetzt?«, fragte Temu, als sie aus der Tür traten.
»Dein Schwager ist doch Schmied, oder?«, fragte Maru.
»Kullu? Ja, das habe ich dir doch … du willst zu meinem Schwager?«
»Er muss etwas für mich schmieden, Temu.«
»Kullu? Der Mann, der die bösen Gerüchte über dich verbreitet? Der
Weitere Kostenlose Bücher