Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
widerlegen. Also sprachen wir Recht und lie- ßen sie als Kaschakku steinigen.
Urteil aus dem Alten Akkesch
Zwischen Schirqu und Bet Kaidhan war die Hauptstraße immer noch überfüllt. Wer sein Opfer gebracht hatte, wollte noch längst nicht nach Hause gehen. Es gab so vieles zu bereden. Der Frieden stand vor dem Tor – und der Kaidhan, der ihm dieses Tor geöffnet hatte, war tot. Als Maru durch die Menge lief, hörte sie neue Gerüchte. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass Luban selbst die verfluchte Umati in die Stadt gerufen hatte. Er sei so arglos und gütig gewesen, dass er den Verrat nicht erwartet habe, raunte man sich in den Gassen zu. Auch sein geliebter Sterndeuter Baschmu, der Klügste der Klugen, war ihr zum Opfer gefallen. Hatte er nicht den Wandelstern entdeckt, der Veränderungen ankündigte? Hätte Luban nur auf die Sterne gehört! Und Uschparu? Der habe die Verfluchte in sein Haus geladen, arglos. Und seine Männer hatten das Weib getötet. Warum nur hatten sie es nicht vorher schon getan? Und wieso waren sie dann so schnell zur Stelle gewesen? Und was hatte Luban im Haus des Immits gewollt,
zu so seltsamer Stunde? Und wo war Umati all die Zeit gewesen? Maru hörte flüstern, die Treulose sei die Geliebte Numurs geworden, der doch ihren Mann und die Stiefkinder erschlagen habe. Man sah darin einen Beweis, wie verderbt dieses Halbblut war. Andere glaubten, es besser zu wissen. Sie hatten gehört, dass der Sonnengott selbst, Vater der Viramatai, Umati aus Numurs schändlicher Gefangenschaft befreit habe. Aber warum hatte sie sich dann gegen Luban gewandt? Hatte vielleicht ein Maghai Umati verhext? Und wieder die Frage, was Luban in Uschparus Bad gewollt hatte? War vielleicht auch er verhext worden? Es waren Fremde in der Stadt, zwielichtige Gestalten. Vielleicht hatten die ihre Hände im Spiel? Und dann hörte Maru wieder das Wort: Kaschakku . Sie versuchte, sich möglichst unauffällig durch die Menge zu bewegen, aber sie trug immer noch die Kleidung, die sie in der Nacht getragen hatte, und das war nicht das Gewand eines einfachen Mädchens. Und jetzt, wo der erste Schrecken verklungen war, fielen den Ulbaitai solche Dinge auf. Sie war eine Fremde, und Fremde hatten es im Augenblick nicht leicht in Ulbai. Maru entdeckte Temu auf den Treppen des Schirqu. Inzwischen war es den Priestern gelungen, die Ordnung wiederherzustellen. Auf der Treppe links der Eingänge strebten die Gläubigen nach oben, auf der anderen nach unten. Es ging langsam, denn jeder wollte für Luban beten und opfern, und es gab wohl nicht genug Priester, um all die Gaben entgegenzunehmen. Maru zwängte sich durch die Menge und kam gerade rechtzeitig, um den Schreiber am Fuß der Treppe abzufangen.
»Temu, ich habe dich gesucht«, rief sie hinauf.
»Ich grüße dich, Maru«, antwortete der Schreiber. Er sah bekümmert aus. Natürlich, der Tod des Herrschers war ihm ebenso nahegegangen wie allen anderen Ulbaitai.
»Hast du dein Opfer bringen können?«, fragte Maru höflich.
»Die Priester haben es genommen, und dieses Mal, ohne durch
Blicke anzudeuten, dass sie mehr erwartet hätten. Es war wirklich nicht viel, aber ich hoffe, es wird Lubans Aufenthalt in Ud-Sror angenehmer gestalten.«
»Ich bin sicher, er wird einen Platz in Uos Nähe bekommen«, meinte Maru.
»Nun, das sollte er, denn er wird zu unseren Ahngöttern aufsteigen, über unsere Stadt wachen und neben Etellu Platz nehmen. Warst du denn auch im Tempel?«
»Das war ich«, erwiderte Maru, und da sie nicht näher darauf eingehen wollte, in welchem Gotteshaus sie gewesen war, sagte sie schnell: »Ich brauche noch einmal deine Hilfe, Temu.«
»Du meinst, wegen des Daimons?«
Temu sprach zu laut. Maru sah, dass einige der Umstehenden ihn hörten und aufmerksam wurden.
»Nicht hier, Temu, komm, wir müssen aus diesem Gedränge heraus.«
»Dann folge mir, ich kenne einen Weg, der nicht ganz so verstopft ist wie der durch das Tempel-Tor.«
Sie kämpften sich quer durch die Menge zur anderen Seite der Hauptstraße. Auch auf den Stufen zum Bet Kaidhan standen unzählige Menschen und besprachen Glück und Unglück dieses Tages. Krieger hatten ein Auge darauf, dass sie dem Herrschersitz nicht noch näher kamen. Temu nahm Maru an der Hand und zog sie zur Seite. Dann schlüpften sie durch einen schmalen Torbogen in eine noch schmalere Gasse. Links ragten die Mauern des Bet Kaidhan in die Höhe, rechts die Mauer, die die Oberstadt in ihre zwei Hälften
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